Dauerregen, Nebel, Wind: Das Wetter in England kann einem arg auf die Nerven gehen. Der Urlaub von Hartmut Ortlieb fiel jedenfalls ziemlich ins Wasser. 1981 war der Abiturient aus Franken mit dem Fahrrad in Südengland unterwegs, die Tour ging im Dauerregen unter. Schlafsack, Klamotten, Zelt - alles war durchnässt. Als wieder mal ein Lastwagen an ihm vorbeirauschte, hatte Ortlieb eine Idee: Diese dicke, wasserdichte LKW-Plane muss doch auch für Taschen zu verwenden sein!
"Jeder schimpft auf das Wetter, aber keiner tut was dagegen", hat Mark Twain geschrieben, und in diesem Sinne setzte sich Hartmut Ortlieb zuhause an die Nähmaschine seiner Mutter. Er bastelte einen Packsack aus grauer und roter LKW-Plane, fixierte den Deckel mit einem Gurtband und brachte Metallhaken aus dem Baumarkt an, um die Tasche am Gepäckträger zu befestigen. Beim Klettern in der Fränkischen Schweiz sprachen ihn Freunde auf die praktischen Taschen an und bestellten auch welche bei ihm. Durch Mund-zu-Mund-Propaganda wurde Ortliebs Erfindung bekannt, lange vor den Kulttaschen der Firma Freitag. Anstatt nach dem Abitur zu studieren, gründete Ortlieb in einer Hinterhofgarage seine Firma. Mittlerweile beschäftigt er 235 Leute und verkauft mehr als 500 verschiedene Produkte - von Lenkertaschen über Rucksäcke bis zu Regenhüten.
Die PR-Abteilung der Firma Ortlieb hätte die legendäre Story nicht besser erfinden können. Aber Hartmut Ortlieb schwört, dass die Geschichte absolut echt und wasserdicht ist. "Hallo, ich bin der Hartmut", sagt der Gründer des Weltmarktführers für wasserdichte Fahrradtaschen, ein unauffälliger Typ, der lieber im Hintergrund bleibt. Er ist nicht der große Redner, eher der große Tüftler. Normalerweise spricht er nicht mit Reportern, bei der Münchner Outdoor-Messe steht er inkognito am Ortlieb-Stand herum. Jedenfalls würde ihn von der Optik her kaum jemand für den Firmenchef halten. Braune Ledersandalen, Jeans, blaues T-Shirt, halblanges, angegrautes Haar, durchtrainierter, schlanker Körper: Man sieht dem 58-Jährigen deutlich an, dass er lieber Fahrrad fährt, klettert und wandert, als dass er bei Business-Meetings über Verkaufszahlen und Marketing redet.
Gebastelt aus einer LKW-Plane
Von seinen neuesten Ideen erzählt er trotzdem. Auf der Messe wurde gerade ein neuartiger Fahrradkorb prämiert, der einen wasser- und staubdichten Deckel hat. "Ganz neu erfinden kann man einen Korb sicher nicht", gibt Ortlieb zu, "aber wesentlich verbessern kann man ein Produkt schon." Den "Uptown"-Korb kann man mit einem einfachen Klick-System an den Lenker anstecken, aber auch mit der Hand tragen und zum Einkaufen, an den Strand oder zum Picknick mitnehmen. Wenn Hartmut Ortlieb mit einem Produkt nicht zufrieden ist, probiert er eben so lange herum, bis er eine Lösung findet, die ihn zufrieden stellt. Wie damals bei der ersten wasserdichten Fahrradtasche.
Der Weg vom selbst gebastelten Packsack aus LKW-Plane bis zum Back-Roller mit Rollverschluss und Befestigungssystem war ähnlich mühsam wie eine 1000-Kilometer-Radtour mit Platten. Anfangs wurden die Taschen genäht, wodurch sie aber nicht komplett wasserdicht waren. Also entwickelte Ortlieb ein Hochfrequenz-Schweißverfahren für die dicken Planen, die Maschinen dazu mussten erst gebaut werden. Nach wie vor entwickelt seine Firma alle Maschinen und Produktionsverfahren selbst. Dann entdeckte er ein einfaches, effektives Verschlusssystem: drei bis vier Wicklungen am offenen Ende des Sacks werden mit einer Steckschnalle fixiert, dadurch ist die Satteltasche zu 100 Prozent wasserdicht.
Ortliebs Know-how war lange geschützt, deshalb war er der Konkurrenz stets eine Nasenlänge voraus. Die Taschen und Rucksäcke aus Franken sind weltweit ein Begriff. New Yorker Fahrradkuriere vertrauen auf sie, Sherpas benutzen sie bei Himalaya-Expeditionen, auf dem Weg ins Büro schützen sie den Laptop, auf der Trekkingtour in Norwegen halten sie das Zelt trocken. Anders als die meisten Mitbewerber, die in China und Vietnam produzieren, sind Ortlieb-Taschen zu 100 Prozent made in Germany. Der Produktionsstandort in Heilsbronn bei Nürnberg macht das, was die robusten Taschen nicht tun sollen - er platzt aus allen Nähten. Radfahren boomt, die Verkaufszahlen von E-Bikes vervielfachen sich - dementsprechend hoch ist die Nachfrage nach geeigneten Taschen. Besonders begehrt sind derzeit spezielle "E-Bike-Taschen" mit aufgedrucktem Batteriesymbol, LED-Beleuchtung und integriertem Akku-Fach.
Mehr als 80 Patente hält Ortliebs Firma, und es kommen jedes Jahr etwa zehn weitere hinzu - von der wasserdicht abschließenden Schraube bis zum neuartigen Rucksack "Atrack", der über einen wasserdichten Reißverschluss verfügt und sich wie eine Reisetasche öffnen lässt. Viele Neuentwicklungen der Outdoor-Firma gehen auf Trends und Moden ein. "Die Expeditionsoptik verschwindet nach und nach aus dem Alltag, dezentere Farben und Urban Style sind gefragt", sagt Marcus Müller, Chefdesigner bei Ortlieb. Wer mit dem Fahrrad ins Büro fährt, möchte nicht unbedingt für einen Kurier oder Extremsportler gehalten werden, also kommen viele Produkte auf den Markt, denen man gar nicht ansieht, dass sie outdoortauglich sind. Die Radtasche "Twin City" ist gar nicht mehr als Radtasche erkennbar, sie sieht aus wie eine Umhängetasche aus Stoff, obwohl sie wasserdicht ist und sich an den Gepäckträger hängen lässt.
Hauseigene Serviceabteilung
Bei einem Rundgang durch die Firma in Heilsbronn bekommen Besucher nicht alles zu sehen. Viele Herstellungsverfahren sind geheim, die Entwicklungsabteilung sowieso. Aus gutem Grund: Immer wieder wurden Ortliebs Erfindungen geklaut, Produktionsmethoden ausspioniert, ehemalige Mitarbeiter wechselten zur Konkurrenz und gaben Expertenwissen weiter. Mittlerweile kann man billige Kopien aus chinesischer Produktion kaufen, alle großen Outdoor-Firmen bieten wasserdichte Taschen an.
Bei Fahrradfans hat Ortlieb dennoch eine Sonderstellung, denn die hauseigene Serviceabteilung repariert die eigentlich unverwüstlichen Taschen, wenn sie doch mal ein Loch haben sollten. Man bekommt Ersatzteile auch zehn Jahre nach Markteinführung eines Produkts. "Es werden zum Teil Taschen eingeschickt, die älter sind als 20 Jahre", sagt Jürgen Siegwarth, Geschäftsführer bei Ortlieb, "da hängen ja auch Erinnerungen dran."
Hartmut Ortliebs Erinnerung an seine Fahrradtour in England ist ziemlich verwässert: "Ich bin damals pitschnass geworden". Aber das ist in diesem Fall ein gutes Zeichen. Denn die Reise war trotz des miesen Wetters ja ein Riesenerfolg. Wer etwas anderes behauptet, ist nicht ganz dicht.