Mode und Instagram:Die neue Oberkörperoffensive

Ewa Herzog Backstage - MBFW Berlin January 2018

Hauptsache obenrum ist alles schön - mehr zeigt das Selfie schließlich nicht.

(Foto: Getty Images for MBFW)

Auffällige Brillen, Flechtfrisuren, Logos am Kragen: Mit dem Selfie-Kult hat sich auch der Fokus der Modeindustrie nach oben verschoben.

Von Dennis Braatz und Silke Wichert

Preisfrage: Was haben die folgenden Modetrends der vergangenen Monate gemeinsam? Barett (Dior). Logo am Kragen (Calvin Klein). Schmales Halsband (wieder Dior). Große Ohrringe (überall). Na...? Richtig! Alle spielen sich rund um Gesicht und Hals ab. Jetzt muss man die neuen Regeln nur noch korrekt anwenden, dann gibt's auch die entsprechende Belohnung: mehr Likes auf Instagram.

Denn natürlich ist da oben nicht zufällig plötzlich so viel los. Seitdem sich die Menschen immer häufiger selbst fotografieren, um ein möglichst gutes Bild von sich in den sozialen Netzwerken abzugeben, hat sich auch das Blickfeld der Modeindustrie nach oben verschoben. Handtaschen hängen halt dummerweise immer noch meist unten an den Händen. Was nützt das schönste Kleid, wenn es auf dem Selfie kaum zu sehen ist? Das neue Product Placement der Marken muss sich folglich auf den Kopf mit ein bisschen Schulter konzentrieren, die alte, klassische Büste. Oder anders gesagt: voll auf die Zwölf.

Am auffälligsten war die Entwicklung bei Ohrringen zu beobachten. Seit den Neunzigern hatte sich hier nicht viel getan, dann kehrten vor einigen Jahren kleine Stecker zurück, der berühmte doppelte "Tribal Perlenohrring" von Dior etwa, noch unter Raf Simons. Das war nicht nur eine hübsche Abwechslung zu den langen Ketten und Armbändern - es war vor allem ein guter Hingucker auf Porträts und Selfies.

Daraufhin tauchte bei Louis Vuitton für 2014 der einseitig getragene große Ohrring wieder auf, mittlerweile sind wir bei bierdeckelgroßen Creolen, wie sie Céline oder Balenciaga im Programm haben, oder bei schulterlangen Fransenohrringen. Schmuckdesigner wie Delfina Delettrez verzeichnen allein bei Ohrschmuck ein Wachstum von bis zu 40 Prozent. Laut "Edited", die Daten für den Modehandel erheben, haben die größten Online-Boutiquen ihr Angebot in der Kategorie mehr als verdoppelt. Der Ohrring sei "die It-Bag der Generation Selfie", heißt es dort.

Aber selbst das kunstvollste Gehänge kann man ja nicht ständig anlegen bei den durchschnittlich 25 700 Selfies, die ein Millennial laut "Edited" in seinem Leben so postet. Schon lange lässt sich also beobachten, wie junge Frauen und Männer nicht nur Grimassen schneiden, um ihre Bilder lustiger/abwechslungsreicher/auffälliger zu gestalten. Sie dekorieren sich also mit allem Möglichen, damit der Kopf, nun ja, nicht so leer aussieht, damit er sich besser von all den anderen hübschen Gesichtern abhebt. "Face Furniture" heißt das anschaulich im Englischen, frei übersetzt Gesichtsmöblierung. Die zur Verfügung stehende Einrichtungspalette kann man beim alten "Wer bin ich" Spiel abgucken: Hut, Kappe, Ohrringe, Haarreifen, kurze Ketten, Bart oder Schnauzer - bis auf letztere alles gut vermarktbare Accessoires.

Also setzte Maria Grazia Chiuri bei ihrer zweiten Dior-Kollektion für den vergangenen Herbst gleich sämtlichen Models ein Leder-Barett auf. Was anfänglich als Black-Panther- oder als Bonnie-and-Clyde-Abklatsch belächelt wurde, entwickelte sich schnell zum Liebling der Influencer und T-Shirt-Feministinnen. Im Dezember zeigte Chanel in Hamburg Kapitänsmützen. Kurz darauf berichtete die Hamburger Morgenpost, der bekannteste Mützenmacher der Stadt verzeichne "eine gestiegene Nachfrage von jungen Frauen". Glaubt man sofort. Instagram war in den Tagen nach der Show voll von den Kopfbedeckungen.

Die Oberkörperoffensive zeigt einmal mehr, wie sehr Instagram, die App zum Teilen von Bildern, die Mode beeinflusst. Ihre Wichtigkeit erkannte die Branche schon vor knapp fünf Jahren. Damals allerdings war die Plattform hauptsächlich dafür bekannt, dass sich Menschen auf der ganzen Welt über sie zu einer Modegemeinschaft zusammenschließen können. Man nannte sie Hipster-Grannies (sehr modische ältere Damen) oder Hijabistas (sehr modische Kopftuchträgerinnen). Ursprünglich war Instagram also ein Schaufenster, das Trends abbildete. Marken begannen daraufhin, ihre Produkte dort möglichst plakativ unterzubringen, das Fenster zu dekorieren, in dem sie Leute mit vielen Followern ihre Kleider und Accessoires überließen.

Du trägst, was du likest

Inzwischen setzt Instagram auch selbst Trends. All die Glitzerschuhe da draußen, von Jimmy Choo über Victoria Beckham bis Saint Laurent, die dicken Gürtelschnallen, Pailletten- und Lurexkleider, wie sie sonst für Silvester reserviert waren und nun für nächsten Sommer gezeigt wurden - nicht zufällig dominiert das, was möglichst "catchy" ist, was sofort ins Auge springt. Der kleine Handybildschirm gibt den Rahmen vor, im übertragenen wie nun auch im wörtlichen Sinne.

Die digital motivierte Gesichtsmöblierung lässt sich sogar offline, auf gedruckten Modemagazinen beobachten. Als im vergangenen November Edward Enninful, der neue Chefredakteur der britischen Vogue, das Cover seiner ersten Ausgabe auf Instagram postete, landete er einen viralen Hit. Klar, dem Debüt des Branchendarlings hatten alle Modeleute lange entgegengefiebert. Aber auf dem Motiv mit dem typischen Selfie-Ausschnitt war auch so viel "Styling" zu sehen, dass es in jedem Thread eines modisch eher wenig interessierten Menschen auffiel.

Model und Feministin Adwoah Aboah trug einen seidenen Turban, baumelnde Diamantohrringe, hatte knallrote Hochglanzlippen und weit übers Lid reichenden Lidschatten in Grün und Blau. Viel zu viel, eigentlich. Oder gerade genug, um in der Selfie-Ära ordentlich Aufmerksamkeit zu bekommen. Wenn ein gutes Modefoto immer auch ein Spiegel der Zeit ist, in der es aufgenommen wurde, hat Enninful jedenfalls alles richtig gemacht.

Wobei das Ausstaffieren von Selbstbildern natürlich kein ganz neues Phänomen ist - das Selfie ist es streng genommen ja auch nicht. Schon Rembrandt war sich selbst das liebste Model. Um die 80 Mal, so häufig wie vor ihm kein anderer Künstler, hat er sich gemalt, jedes Mal in einer anderen Rolle: etwa als Apostel Paulus mit weißem Turban und einer Ausgabe des Alten Testaments in der Hand oder als Mann von Welt mit Feder an Barett und Ohrring. Weshalb die BBC schon die Frage stellte, ob er womöglich der "Erfinder des Selfies" sei. Fakt ist: Das Ich hat sich schon immer leichter zum Kunstwerk erheben lassen, wenn es hochdekoriert war.

Logisch, dass Farben eine der größten Rollen spielen. Die Umsätze der Beauty-Industrie steigen seit Jahren, allein die Deutschen gaben 2017 rund 13,5 Milliarden Euro für Pflegemittel aus. Das Segment mit dem stärksten Wachstum? Dekorative Kosmetik. "Der Make-up-Boom hat viel mit dem Trend zur Selbstdarstellung zu tun, dem Teilen von Bildern", sagt Miriam von Loewenfeld, Deutschland-Geschäftsführerin von Sephora, einer der größten Kosmetikketten weltweit. Selfies seien der Motor der Beauty-Branche, weil man dort nun mal vor allem das Gesicht sehe, das sich am leichtesten mit Lippenstift, Lidschatten, Rouge usw. verschönern lässt.

Wer in den vergangenen Monaten einmal eine Sephora-Filiale in München, Paris oder Barcelona betreten hat, trifft dort stets auf Horden von jungen Mädchen, die sich schminken lassen oder die neuesten Trends selbst ausprobieren - um sie dann umgehend ihrer Community zu präsentieren. Allein das relativ neue Thema "Contouring" wäre ohne die Selfie-Kultur wahrscheinlich gar keines: Das aufwendige Konturieren und Kaschieren von Wangenknochen, Nase, Kinn betrieben früher höchstens Make-up-Artists bei Hollywoodstars, mittlerweile wird per Youtube-Turorial überall in Heimarbeit gepinselt. Populär gemacht haben das Ganze übrigens die Kardashians, bekanntlich Profiliga in der Selfie-Produktion.

Die nächste Cashcow? Haare. Guccis Haarbänder mit Blumen und Tigern, Halsschleifen mit Rosen-Print, goldene Haarkämme und Lorbeerkränze sind so auffällig gestaltet, dass man ihnen sofort ihren Hersteller ansieht. Das gilt auch für die Sonnenbrillen-Kollektion - mittlerweile ja auch halbe Haarreifen - die mit perlenbesetzten Rahmen und Blitz-Silhouetten so nah am schlechten Geschmack entlangsurft, dass man sich fragt, wie sich diese Teile eigentlich so schnell ausverkaufen konnten. Gucci scheint den Bedarf in Sachen Spielzeug für die Selfiekultur ohnehin früh erkannt zu haben. Ende 2016 startete das Label die Mission "Inhouse Eyewear". Nach zwanzig Jahren trennte man sich vorzeitig vom Lizenznehmer der Brillen, um künftig alle Modelle in Eigenregie zu entwerfen und zu produzieren - um wiederum mehr an ihrem Verkauf zu verdienen.

Auch bei Sephora beobachten sie, dass die Likes für Haar-Postings und -videos in den sozialen Netzwerken teilweise bereits höher sind als bei Make-up. "Das ist ganz klar einer der nächsten großen Trends", glaubt Loewenfeld. Womöglich sehen wir also demnächst nicht nur Blogger-Dutts und Flechtfrisuren auf den Köpfen, sondern auch wieder Dauerwellen wie in den Achtzigern, noch mehr Farben und eingefräste Botschaften wie bei Fußballern. Mag ja sein, dass die Haltung "Was ich im Kopf habe, ist wichtiger als die Frisur, die ich darauf trage" für die Generation Selfie irgendwo immer noch gilt. Nur mehr Likes bekommt man damit halt leider nicht.

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