Inklusion:Mode für mehr Selbstbestimmung

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Mode, die niemanden ausschließen soll: Mob aus Wien. (Foto: Anna Breit)

Das Wiener Label Mob entwirft Mode für Menschen mit körperlichen Einschränkungen. Über die Bedeutung von Kleidung für die Teilhabe in einer Gesellschaft.

Von Julia Rothhaas

"Es gibt mehr Mode für Haustiere als für Rollstuhlnutzer", sagt Stephanie Thomas. Dass etwa Burberry eine Jacke für Hunde im Angebot hatte, nicht aber ein Modell für jemanden im Rollstuhl, empörte die US-Amerikanerin so, dass sie bereits vor zwanzig Jahren begann, nach zeitgemäßer Kleidung für Menschen mit körperlichen Einschränkungen zu suchen. Inzwischen ist sie eine gefragte Stylistin im Bereich Disability. Sie hat eine eigene Firma, hält Vorträge und berät Labels in Sachen Inklusion. Und wird nicht müde, auf all das hinzuweisen, was nicht funktioniert oder fehlt. Was bringt zum Beispiel ein versteckter Reißverschluss hoch bis in die Taille, wenn er nur von anderen geöffnet werden kann? Wenn Thomas ihre Kunden beim Einkaufen berät, stellt sie immer die gleichen Fragen: Kommst du selbst rein und wieder raus? Ist das Tragen aus medizinischer Sicht unbedenklich? Und vor allem: Gefällt es dir?

Genau das ist häufig das Problem. Während genormte Kleidungsstücke sich oft nicht eignen für Menschen, die im Rollstuhl sitzen, kleinwüchsig sind oder eine Prothese tragen, und das An- und Auskleiden zu einer körperlichen Herausforderung für den Betroffenen, die Familie und Betreuer wird, hat die sogenannte Reha- oder Pflege-Mode oft ästhetische Mängel: "Absolute Seniorenoptik" sagt Josefine Thom, "das passt einfach nicht zu einer 38-Jährigen." Die Rede ist von Thoms Schwester Nadja, die mehrfach körperlich und kognitiv eingeschränkt ist. Nadja kann keine eigenen Wünsche in Sachen Mode äußern, sie kann nicht sprechen. "Doch dass sie so wenige Möglichkeiten hat, fand ich ganz schön ungerecht", so Thom. Sie macht sich auf die Suche nach Alternativen. Die Auswahl an junger Mode für Rollstuhlnutzer wie Nadja ist im deutschsprachigen Raum überschaubar, adaptive Mode findet sie nur bei wenigen großen Firmen wie Tommy Hilfiger und Nike. Josefine Thom ist unzufrieden mit ihrer Ausbeute. Und weil Frust manchmal ein ganz guter Katalysator ist, gründet sie ihre eigene Firma: Mob, Mode ohne Barrieren.

Probeträger dürfen die Modelle erst testen

Seit knapp zwei Jahren setzt Mob aus Wien auf barrierefreie Mode, die ausschließlich in Österreich gefertigt wird. Mit ihrem Geschäftspartner Johann Gsöllpointner beauftragt die 32-Jährige wechselnde Designer, coole Mode für ihr Label zu entwerfen. Damit die Modelle alltagstauglich sind, setzen sie Macher und Menschen mit Behinderung zusammen. Gemeinsam wird besprochen, was wichtig ist und was nicht geht. Im Anschluss dürfen Probeträger die Modelle testen. Oft ist gerade das An- und Auskleiden eine schmerzhafte Angelegenheit, gerade für diejenigen, deren Bewegungsfähigkeit stark eingeschränkt ist, etwa durch Skoliose oder Spastiken. "Woher sollen die Designer wissen, worum es wirklich geht, wenn sie keinen Kontakt zu Menschen mit Behinderungen haben?", fragt Josefine Thom.

Vom herkömmlichen Angebot in den Kaufhäusern und Boutiquen unterscheiden sich die Kollektionen von Mob auf den ersten Blick nicht: gerade geschnittene Hemden mit Stehkragen, Softshell-Jacken für draußen, bedruckte Sweatshirts, olivgrüne und safrangelbe Unisex-Hosen oder lässige Frühlingskleider im Karo-Muster.

Engere Ärmel, längere Beine: Details machen den Unterschied. (Foto: Anna Breit/Hersteller)

Der entscheidende Unterschied liegt in der Fertigung. Die Oberteile für Rollstuhlnutzer sind vorne kürzer geschnitten und hinten länger, die Ärmel lassen sich mindestens aufrollen und fixieren oder fallen gleich knapper aus, damit sie nicht dauernd an den Rädern schleifen. Die Beine wiederum sind länger, damit sich die Hose im Sitzen nicht immer am Knöchel hochschiebt. Am Po gibt es keine Hosentaschen, weil sie unangenehme Druckstellen verursachen, und auf Taschen am Oberschenkel verzichten sie ganz, weil da alles rausfällt. Die Nähte werden flach verarbeitet, und der höher gesetzte Bund ist elastisch, sonst drückt es am Bauch. Für manche Modelle werden Inkontinenzmaterialien verwendet, ansonsten arbeitet Mob vor allem mit dehnbaren Stoffen, um das Anziehen zu erleichtern. "Zu glatte Materialien funktionieren nicht, und ist ein Stoff zu rau, lässt sich ein Träger nicht gut mit dem Sitzbrett mobilisieren", sagt Josefine Thom. Das wichtigste Accessoire aber sind die Magnetverschlüsse. "Weil sich damit Jacken leichter öffnen und schließen lassen, bedeutet dies deutlich mehr Selbstbestimmung und weniger Assistenz. Und damit eine große Erleichterung."

"Wir wollen keine Reha-Mode machen."

Gedacht sind die Kollektionen für Rollstuhlnutzer, Menschen mit altersbedingten oder kognitiven Einschränkungen, temporären oder chronischen Verletzungen, Autoimmunerkrankungen oder Prothesen. "Aber wir wollen explizit keine Reha-Mode machen", sagt Josefine Thom, "unsere Kleidung ist genauso für Nicht-Rollstuhlnutzer gedacht." Der Begriff sei negativ konnotiert, "viele unserer Kunden wollen ja explizit weg aus dieser Sparte, weil sie die total uncool finden." Außerdem passe es nicht zum inklusiven Gedanken, den sie verfolgen: "Wir wollen mit unserer Mode erreichen, dass Menschen mit Einschränkungen selbstbestimmt Teil der Gesellschaft sind und sein können." Etwas Eigenes für diese Zielgruppe zu machen widerspreche dem völlig.

Das sieht Dagmar Venohr ähnlich. "Der Begriff der Behinderung ist einer, der Menschen ausschließt. Mode sollte genau das Gegenteil wollen." Die 49-Jährige ist Dozentin für Geschichte und Theorie der Mode an der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel und beschäftigt sich unter anderem mit Inklusion im Fashion-Bereich. "Ich finde es ohnehin sinnvoller, wenn man stattdessen zwischen dem unterscheidet, was für jemanden machbar ist, und dem, was nicht machbar ist. Schließlich behindert Kleidung alle Menschen, die keinen genormten Idealkörper haben. Man muss nicht im Rollstuhl sitzen, damit einem die Hose von der Stange nicht passt." Als ein auf Prestige und Ökonomie aufbauendes System ermögliche Mode für viele Menschen ohnehin keine Teilhabe, weil es auf schnelllebigen Trends und einer globalen Ungleichverteilung basiere. "Inklusion statt Exklusivität ist das Ziel, und adaptive Mode ist ein notwendiger und wesentlicher Schritt auf diesem Weg."

Sweatshirt mit Botschaft: "Dein Event ist Oasch. Baut mehr Rampen." (Foto: Anna Breit/Hersteller)

Die gesellschaftliche Realität berücksichtigen, statt nur ein Ideal zu verkaufen: Wie das funktioniert, zeigen auch andere kleine Labels. Die Marke Reset aus London denkt bei ihren farbenfrohen Entwürfen den Tremor von Parkinson-Patienten mit, in dem sie etwa große Taschen auf Blusen und Jacken setzt, in die man viel leichter von vorne greifen kann, ohne sich mit der zitternden Hand an der Seite zu verheddern. Und die Kleider der Engländerin Victoria Jenkins von Unhidden Clothing haben unter doppelten Stofflagen oder üppigen Schleifen Öffnungen, um diskret an die Kolostomie-Tasche am Bauch zu gelangen. Diese Modelle unterscheiden sich von herkömmlicher Mode lediglich in klug mitgedachten Details, nicht aber in Verarbeitung, Design oder Material. Getragen werden können sie von allen Menschen, manchen aber bieten die Entwürfe zusätzlich große Erleichterung im Alltag. Soziale Teilhabe und Mode gehören eben zusammen.

Weder Opfer noch Held, sondern einfach cool

Ideen gibt es genug, der Markt verspricht großes Potenzial, doch kommen manche Produkte nicht beim Konsumenten an, wie jüngst eine Recherche der New York Times zeigte. Auf Facebook und Instagram versperren Algorithmen Anbietern adaptiver Mode den Weg, weil sie diese als Medizinprodukt einstufen. Weil mit solchen Produkten in den USA aber nicht geworben werden darf in den sozialen Netzwerken, verstoßen die Firmen gegen die Werberegeln - obwohl sie gar keine Medizinprodukte verkaufen. Doch die Anzeigen werden ausgeblendet, das Angebot verschwindet aus dem Sichtfeld.

Die beiden Mob-Macher werben in Fachzeitschriften und ausgewählten Sanitätshäusern, aber auch sie müssen mit einem höheren Aufwand rechnen, bis ein Kleid beim Kunden landet: Erst gibt es mehrere Feedback-Schleifen zwischen Designern und Probeträgern, dann muss ein barrierefreies Fotostudio gefunden werden und genug Zeit eingeplant werden, weil das Umziehen für die Aufnahmen länger dauert. Viele Models brauchen einen persönlichen Assistenten, denn einen gesunden Körper fürs Foto in einen Rollstuhl zu setzen kommt nicht infrage. Vor der Kamera stehen entweder ihre Probeträger oder Menschen, die sie auf der Straße angesprochen haben. Inzwischen werden die Mob-Models immer häufiger von anderen Firmen angefragt, denn seit einigen Jahren wollen sich viele Labels möglichst divers zeigen. "Da muss man schon genau gucken, was hinter einer Anfrage steht: Denn unsere Models wollen weder als Opfer noch als Held verkauft werden", sagt Josefine Thom. "Die sind einfach nur cool."

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