Mittelalter:Vermeintlich tot, um frei zu leben

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Mönch in mittelalterlicher Schreibstube. (Foto: Süddeutsche Zeitung Photo)

Im Mittelalter flohen immer wieder Nonnen und Mönche heimlich aus den Klöstern - ein Politikum. Die englische Ordensfrau Joan of Leeds entkam mit einem besonders raffinierten Manöver aus ihrem Konvent.

Von Sofia Glasl

Es klingt wie aus einem Mafia-Krimi: Ein Mitglied der Familie stirbt, wird mit dem ihm gebührenden Zeremoniell beerdigt, es kehrt Ruhe ein. Kurz darauf gibt es einen Tipp oder ein Komplize verplappert sich, und es fliegt auf, dass alles nur inszeniert war: Im Sarg lag keine Leiche, sondern nur eine Attrappe.

Der Beerdigte ist also nicht tot, lediglich untergetaucht, unauffindbar für den Don und seine Schergen. Die Suche, vielmehr die Jagd auf den Abtrünnigen beginnt, ihn erwartet ein düsteres Schicksal. So oder ähnlich hat man es schon oft in Thrillern gelesen oder im Kino gesehen.

Eine solche Geschichte erwartet man aber weniger aus einem Kloster. Doch genau so etwas haben Historiker der Universität im britischen York im Februar 2019 entdeckt. Sarah Rees Jones, Professorin für mittelalterliche Geschichte, arbeitet aktuell an einem Forschungsprojekt die Register der Erzbischöfe von York im Zeitraum von 1304 bis 1405 auf und übersetzt mit ihrem Team die lateinischen Einträge ins Englische. Diese gebundenen Pergamentbände führten die Erzbischöfe damals auf allen Reisen mit und ließen darin Geldflüsse und offizielle Interaktionen notieren.

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Rees Jones und ihr Team erhoffen sich aufschlussreiche Infos dazu, welche Rolle die Erzbischöfe in jener Zeit in der Kirchenordnung gespielt haben und wie das Leben in der Gegend um York aussah. Erzbischof William Melton etwa zog 1319 mit einem Heer aus Klerikalen und Bauern gegen die Schotten in den Kampf, denn York lag lange Zeit auf der Frontlinie der schottischen Unabhängigkeitskriege.

Melton und seine kampfunerfahrene Horde verloren kläglich. Rees suchte nach weiteren Hinweisen auf Meltons Rolle in diesen Auseinandersetzungen.

Bei dieser Recherche stieß das Forscherteam auf eine ganz andere Schlacht, die Melton zu schlagen hatte: eine kircheninterne, und die hat tatsächlich Eingang ins Register gefunden - in klitzekleinen Randnotizen neben sonst nüchtern wirkenden Aufzeichnungen.

Eine Sensation für die Wissenschaftler, historische Post-its, wenn man so will. Solche Abweichungen sind ein Schatz für jeden Quellenforscher, sie hauchen den so trockenen Informationen, die mühsam zu einem Gesamtbild zusammengesetzt werden müssen, Leben ein.

Rees Jones identifizierte den Fund als Skizzen eines Briefes, den Melton 1318 an den Dekan des etwa 45 Kilometer östlich von York gelegenen Beverley geschickt hatte - das Originaldokument ist nicht erhalten, lediglich diese Notizen. Darin forderte er die Auslieferung einer Nonne, Joan of Leeds.

Sein Vorwurf: Sie habe eine tödliche Krankheit vorgetäuscht und mit Hilfe einiger Komplizinnen einen Dummy ihres Körpers beerdigen lassen, um sich außerhalb des Klosters der fleischlichen Lust hinzugeben.

Offensichtlich hatte sich jemand verplappert, und der Coup flog auf - welche Gesichter müssen die Geistlichen gemacht haben, als sie bei der vermeintlichen Exhumierung nur einen Platzhalter im Sarg vorfanden! Meltons Brief klingt äußerst erzürnt.

Abgetaucht, um mit einem Mann zusammenzuleben

Sie habe auf "unverschämte Art und Weise den Anstand der Religion und die Sittsamkeit ihres Geschlechts weggeworfen", den Plan heimtückisch ausgeheckt und die Schamlosigkeit besessen, die Attrappe "an diesem religiösen Ort beerdigen zu lassen".

Meltons Ermittlungen ergaben, dass Joan of Leeds sich nach Beverley abgesetzt hatte, um mit einem Mann zusammenzuleben. Ein echter Skandal vor dem Herrn und im Mittelalter eine doppelte Ungeheuerlichkeit für eine Frau.

Denn in der damals weithin patriarchal geordneten Gesellschaft hatten Frauen im Grunde nur zwei Optionen: Stammten sie aus ärmlichen Verhältnissen, mussten sie ihr Leben lang schwer für ihren Unterhalt arbeiten. Stammten sie aus einer wohlhabenden Familie, wurde eine Ehe für sie arrangiert. Lediglich der Eintritt ins Kloster bot einen Gegenentwurf, den viele nutzten, um sich einen besseren Lebensstandard zu sichern oder der vorbestimmten Ehe zu entkommen.

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Die meisten Klöster nahmen Anwärterinnen vom 14. Lebensjahr an auf, und so kam es laut Rees Jones nicht selten vor, dass sich Nonnen, und auch Mönche, im jungen Erwachsenenalter nach einem weltlichen Lebenswandel sehnten. Deshalb war es nach Rees Jones nicht unüblich, dass Nonnen und Mönche ihre Konvente verließen - natürlich nicht immer auf so spektakuläre Weise wie Joan of Leeds.

Gerade in St Clement's gab es wohl vor Joan schon einige Zwischenfälle: 1301 war Schwester Cecily spontan geflohen, als sie am Tor des Klosters Reiter traf, kurzerhand ihren Habit abwarf und mit ihnen davonritt. Autoren von Gothic Novels hätten ihre reine Freude daran gehabt, diese Szene zu einer schwarzromantischen Erzählung auszubauen.

Der damalige Erzbischof Greenfield musste zudem die Priorin, Agnes de Methelai, so steht es in Aufzeichnungen der Stadt, mehrfach dazu auffordern, für Ruhe und Ordnung in ihrem Haus zu sorgen, weil sich immer wieder Nonnen danebenbenahmen. 1324 kam es zum Eklat, als der 1315 eingetretenen Isabella de Stodley ein "lapsus carnis" vorgeworfen wurde, also ein Fehltritt fleischlicher Natur - die Priorin legte ihr Amt anschließend nieder.

Ein rebellischer Akt, ein regelrechter Affront

Joan of Leeds ist also keineswegs die einzige Nonne, die damals einen Ausweg suchte. Aber ihr Fall ist besonders gut dokumentiert, was darauf schließen lässt, dass ihr Fluchtplan durchaus außergewöhnlich und unerhört war.

Denn was für ein heutiges Verständnis von emanzipiertem und selbstbestimmtem Handeln zeugen mag, war damals ein rebellischer Akt, ein regelrechter Affront sowohl gegen die Kirche als auch gegen die Gesellschaft.

Was aus Joan of Leeds wurde, ist bisher nicht bekannt, zumindest fand Sarah Rees Jones keine Anhaltspunkte dafür, ob der Erzbischof es bei der formalen Aufforderung an die Nachbarsdiözese beließ, oder ob sie tatsächlich nach York zurückgebracht und gar bestraft wurde.

Bei der Mafia würde man auf ein Zeugenschutzprogramm tippen oder auf einen klammheimlich ausgeführten Auftragsmord.

Dieser Text erschien zuerst in der Print-Ausgabe vom 14. Juni 2019.

© SZ vom 15.06.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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