Wenn ein Mensch verschwindet, plötzlich von einem Tag auf den nächsten nicht mehr da ist, reagiert die Umwelt mit Irritation, Unverständnis, Erschrecken. Meist sind die Gründe dahinter so banal wie brutal: eine Entführung, ein Unfall, ein (Selbst-)Mord vielleicht.
Schwierig wird es vor allem, wenn der Gesuchte überhaupt nicht mehr auftaucht, weder wohlbehalten noch als Leiche, und keine Spuren den Ermittlern Hinweise auf seinen Verbleib liefern können. Bei einer aktuelleren Dringlichkeit eines solchen Ereignisses spricht man etwas verniedlichend von "vermisst", liegt das Verschwinden bereits sehr lange zurück, von "verschollen".
Aus Sicherheitsgründen reiste er unter dem Decknamen "Jean Koch"
Einer der historisch rätselhaftesten Fälle einer verschwundenen und nie wieder aufgetauchten Person ist der des britischen Diplomaten Benjamin Bathurst. Nach der Nacht des 25. November 1809 ward der Gesandte nicht mehr gesehen. Schauplatz des mysteriösen Verschwindens war Perleberg, eine Stadt am nordwestlichen Rand des heutigen Bundeslandes Brandenburg.
Benjamin Bathurst, der dritte Sohn des Bischofs von Norwich, Henry Bathurst, war auf der Rückreise nach England. Zuvor hatte er am Wiener Hof versucht, Kaiser Franz I. zu einer Erneuerung der Allianz mit England zu überreden. Der Monarch stimmte dem Vorschlag zu und entsandte im April 1809 Truppen zur italienischen Grenze.
Die Niederlage der Österreicher gegen Napoleon in der Schlacht bei Wagram am 6. Juli machte Bathursts Bemühungen jedoch zunichte, eilig musste er Wien verlassen. Für die Heimkehr zog er den vermeintlich ungefährlicheren Landweg über die Gebiete des neutralen Rheinbundes dem Wagnis einer Fahrt übers Mittelmeer nach England vor. Zur Verstärkung der eigenen Sicherheit reiste er unter dem Decknamen "Jean Koch", in Begleitung seines Dieners Krause.
Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin erreichte Bathurst am frühen Nachmittag des 25. November Perleberg, damals ein preußischer Grenzposten. Die Kutschpferde wurden vor dem Posthaus abgespannt, neue Rösser und die Begleitung zweier bewaffneter Reiter wurden verlangt. Bathurst nahm im "Weißen Schwan" eine Mahlzeit zu sich, verbrachte ein paar Stunden schreibend und schlafend, verbrannte einen Stapel Dokumente und bereitete sich gegen neun Uhr abends auf den Aufbruch vor.
Inzwischen war es der Jahreszeit gemäß stockfinster, womöglich auch nebelig, die späte Abreise stand infrage. Die Motive für den langen, geradezu hinausgezögerten Aufenthalt liegen im Dunklen, womöglich wollte der um sein Leben besorgte Gesandte den überall in der Umgebung lauernden französischen Truppen im Schutz der Nacht entgehen.
Sein treuer Begleiter Krause kümmerte sich gerade noch um die Kutsche, als Bathurst, der bis eben noch dort gestanden hatte, plötzlich nicht mehr da war. Als wäre er vom Erdboden verschluckt worden. Manchmal ist zu lesen, er sei sogar in die Kutsche gestiegen und erst danach nicht mehr gesehen worden.
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Eine ausgedehnte Suchaktion begann, veranlasst zunächst durch den alarmierten Adjutanten, ein halbes Jahr danach durch die Ehefrau des Gesandten, Phillida Call, die aus England anreiste. Nachdem Bathursts wertvoller Pelzmantel in den Räumen des Posthauses entdeckt wurde, kamen Anschuldigungen gegenüber dem Angestellten August Schmidt und seiner Frau auf, sie hätten dem Diplomaten nachgestellt, in der Absicht ihn auszurauben. Dies konnte nicht bewiesen werden.
Später wurde in einem Waldstück eine Hose gefunden, von Pistolenkugeln durchlöchert. Darin ein angsterfüllter Brief von Bathurst an seine Frau. Dieser Fund erhärtete den Verdacht eines französischen Überfalls. Ebenso gut könnte die Hose aber dort platziert worden sein, um die Ermittlungen in diese Richtung zu locken und vom möglichen wahren Sachverhalt abzulenken. Jahrzehnte nach dem Vorfall fand man Skelette in der näheren Umgebung, einmal 1852 und einmal 1910. Sie wurden jedoch niemals identifiziert.
Fiel Bathurst, der als dekorierter Diplomat während der napoleonischen Kriege keine unwesentliche Rolle gespielt hatte, einer Entführung von französischer Seite zum Opfer? Wurde er ermordet oder verschleppt? Spielten Geld oder politische Motive eine Rolle? Oder hat sein Verschwinden, wie es findige parapsychologische Theoretiker sehen wollen, übernatürliche Hintergründe?
Gerade für Letztere gibt es wie oft bei solchen Fällen zahlreiche Anhänger. Zwar war es im 19. Jahrhundert prinzipiell nicht ungewöhnlich, dass Leute einfach so abhandenkamen, einem Raubüberfall oder Mord zum Opfer fielen.
Schnelligkeit und Spurlosigkeit
Dennoch verblüffen sowohl die abrupte Schnelligkeit als auch die wortwörtliche Spurlosigkeit. Die Wahrheit über die Vorkommnisse der Nacht vom 25. November 1809 in Perleberg weiß aber niemand, wie auch eine zum 200. Jahrestag veranstaltete Ausstellung 2009 in der Stadt zeigte. So mancher Historiker beschäftigte sich lange mit dem Mysterium, konnte es jedoch nicht zweifelsfrei auflösen.
1935 nahm sich der Ufa-Film "Der höhere Befehl" des Verschwundenen an, freilich weniger mit dem Versuch einer Lösung des Rätsels, sondern mit propagandistischer Intention. Gerade der Science-Fiction-Literatur kam das rätselhafte Verschwinden des Benjamin Bathurst als surreal-grusliges Thema sehr gelegen.
In zahlreichen Geschichten beispielsweise von H. Beam Piper, Avram Davidson und Robert A. Heinlein tritt der Diplomat als Figur auf und wird wahlweise in diverse Paralleluniversen mit einer verdrehten Historie oder in die Zukunft transportiert. Auf jeden Fall ist Benjamin Bathurst in dieser, der irdischen Welt, nicht wiedergefunden worden.