Der Schiedsrichter Felix Zwayer, 42, bestritt am Samstagabend seinen 30. Saisoneinsatz. Er hat Länderspiele, Europacupspiele, Pokalspiele sowie Spiele in der ersten und der zweiten Liga geleitet, aber solche Würdigungen wie von Deniz Undav hat er bisher nicht empfangen dürfen. Nach dem 2:2 zwischen Bayer Leverkusen und dem VfB Stuttgart stimmte der Gästestürmer Undav eine Rede auf den Schiedsrichter an, die einer Hymne glich. "Danke Schiri", rief er durch den Kabinengang. "Super Schiri", setzte er fort. "Bester Schiri", schloss er den Vortrag ab.
Zwayer wird sich kaum der Illusion hingegeben haben, dass die Worte des VfB-Profis ernsthaft als Laudatio gemeint waren. Es war keineswegs so, dass ihm Undav und Kollegen sowie Trainer Sebastian Hoeneß nach dem Abpfiff zur gelungenen Arbeit gratuliert hätten. Wut und Erregung herrschten beim VfB über eine Dramaturgie mit typischer Leverkusen-Pointe. In der Schlussminute gelang Bayer doch noch der Ausgleichstreffer, auch nach dem 46. Saisonauftritt bleibt das Team unbesiegt. Die Beschwerden der Stuttgarter über die Umstände des Unentschiedens nahm Zwayer mit stoischer Mimik entgegen. Statt selbst zu schweigen, hätte er aber auch manchen kritischen Fußballer zum Schweigen bringen können: Fährst Du, so wie ich, auch zur Europameisterschaft?
Warum Felix Zwayer neben Daniel Siebert bei der EM das deutsche Schiedsrichterwesen vertreten darf, das hat er am Samstagabend nicht überzeugend belegen können. Er hatte Schwierigkeiten, dem hitzigen Match gerecht zu werden, einmal zeigte er Undav die gelbe Karte, obwohl dieser nicht Täter, sondern Opfer gewesen war. Die beiden Trainer versah er für Nichtigkeiten ebenfalls mit Verwarnungen, weshalb Xabi Alonso am nächsten Ligaspieltag gesperrt ist. "Ich verstehe die gelbe Karte nicht so gut, um ehrlich zu sein", sagte der Coach - für seine Verhältnisse ein scharfer Protest.
Vermutlich haben sich die Stuttgarter in Wahrheit mehr über sich selbst geärgert als über den Schiedsrichter. "In der Nachspielzeit der Nachspielzeit" sei der Ausgleich gefallen, bemerkte Hoeneß, doch für Kritik an der Überlänge hätte er sich an seine eigenen Spieler wenden müssen. Als der Stuttgarter Jamie Leweling in der dritten von fünf Extra-Minuten die Order zur Auswechslung erhielt, verließ er im aufreizenden Gänsemarsch das Spielfeld. So geriet die Szene doppelt zum Verhängnis: Zwayer zeigte an, dass er die Verzögerung in Rechnung stellen werde, zudem betrat Abwehrspieler Pascal Stenzel den Rasen, um die Stuttgarter Führung zu sichern. Das Gegenteil passierte: Stenzel beging ein überflüssiges Foul, den fälligen Freistoß brachte Florian Wirtz herein, und irgendwann landete der Ball auf Umwegen bei Robert Andrich: Schuss, Aufsetzer, Tor, 2:2, ein Wald von 1000 Beinen hatte es nicht verhindert. Ja, das war wieder mal unglaublich. Die Bayarena - ein Ort okkulter Vorkommnisse?
Das Phänomen der späten Tore sei "nicht einfach zu erklären", sagte Alonso und beließ es dabei. Doch abgesehen von dem starken Willen der Spieler, bis zum letzten Atemzug der Saison unbesiegt zu bleiben, sind späte und sehr späte Tore schon seit dem vorigen Sommer ein Merkmal des durchgeplanten Leverkusener Fußballs. Darunter waren Siegtreffer in Augsburg und Leipzig, gegen Stuttgart im DFB-Pokal und gegen Hoffenheim in der Liga, in der vorigen Woche verhinderte Josip Stanisic in Dortmund die erste Saisonniederlage, nun war Andrich der Retter, der aber keineswegs zufällig zum Schuss bereitstand. Auf dieser Position am Elfmeterpunkt bezieht er häufig bei Ecken und Freistößen Position, selbst der Aufsetzer war eine Wiederholung früherer Versuche. Und dennoch bleibt das permanente Reproduzieren von späten und sehr späten Toren eine geheimnisvolle Kunst.
Angesichts der Magie dieses Treffers wirkte das Aufregen der Stuttgarter über angebliche Regelwidrigkeiten etwas kleinkariert. Zumal auch das dritte Aufeinandertreffen der beiden Teams in der Saison wieder zu einem Fest des Fußballs geriet. Gäbe es hierzulande öfter solche Spiele, dann würde nicht nur der sagenhafte asiatische TV-Markt von der Premier League auf die Bundesliga umschalten. Allein der spektakuläre Auftritt von Alexander Nübel wäre in China und Korea und Japan bestimmt ein großes Thema, deutsche Torhüter gelten ja als Synonym deutscher Wertarbeit. Nübel bewies großartige Reflexe und hat sich eine Coolness im Stil des jungen Manuel Neuer angeeignet.
VfB-Keeper Nübel zeigt in Leverkusen ein spektakulär cooles Spiel
Bis es spannend wurde, obsiegten zunächst eine Halbzeit lang Taktik und Obstruktion, dann sorgten Chris Führich und Undav für einen Stuttgarter 2:0-Vorsprung, der den neuen deutschen Meister vorübergehend überfordert wirken ließ. Serhou Guirassy verpasste knapp das 3:0. Das Publikum besang in selbsthypnotischer Manier das neue Meisterglück und kümmerte sich nicht mehr ums Resultat, Alonsos Siegerteam aber rang verbissen um den Anschluss. Diesmal allerdings ohne die trotz Rotationen stets präsente Achse: Jonathan Tah war angeschlagen ausgewechselt worden, Wirtz spielte schonungshalber nur in der Schlussviertelstunde mit, und Granit Xhaka verbüßte eine Gelbsperre. Seine ordnende Hand fehlte, die Spielkontrolle ebenso. Diesmal musste ein großer gemeinsamer Kampfgeist genügen, um das 2:2 nachzureichen.
Ist Xabi Alonsos Bayer 04 also überhaupt noch besiegbar? Die AS Rom wird versuchen, es herauszufinden, wenn die Leverkusener am Donnerstagabend zum Halbfinale in der Europa League vorbeischauen. Empfehlung: in der Nachspielzeit den Wecker stellen.