Yann Sommer bei Inter Mailand:Die neue Aura des Sommers

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Überzeugt jenseits der Alpen: Yann Sommer bei Inter Mailand. (Foto: Nicolo Campo/Imago)

Mit 35 Jahren scheint der Schweizer Torhüter überraschend eine neue Stufe seines Könnens erreicht zu haben. Bei Inter Mailand feiern sie ihn für eine Ausstrahlung, die - fast - an Manuel Neuer erinnert.

Von Thomas Hürner

Was ein Torwart tut, kann in Daten und Metriken erfasst werden, in einem Wust aus Zahlen, der Gesehenes zu einer objektiven Angelegenheit macht. Jede Bewegung wird erfasst, jede Parade interpretiert. Nur: Wo endet Messbarkeit, wo beginnt Transzendenz? Gerade Torhütern wird ja eine Kompetenz nachgesagt, die sonst nur wenige Fußballer haben. Durch pure Präsenz, heißt es, seien sie in der Lage, die Psyche des gegnerischen Stürmers zu manipulieren. Deren Fokus so zu vernebeln, dass daraus Fehlschüsse resultieren.

Seit August spielt der Schweizer Yann Sommer, auch schon 35 Jahre alt, bei Inter Mailand, dem Champions League-Finalisten des Vorjahres, eine große Nummer in Italien und Europa. Und südlich der Alpen debattieren sie derzeit ausgiebig, ob dieser Torwart, der viele Jahre für Borussia Mönchengladbach zuverlässig Bälle fing, aber eher keine außerordentliche Erscheinung war - ob dieser Torwart sich endlich draufpacken konnte, was ihm zu den Ranghöheren bisher gefehlt hat: eine Ausstrahlung, die direkt oder indirekt aufs Spielgeschehen einwirkt.

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Seit vergangenem Samstag wird die Debatte noch intensiver geführt: Inter hatte Hellas Verona zu Gast, ein Pflichtsieg für den Tabellenführer der Serie A. Wie so häufig, lief das Spiel dann aber nicht so, wie das der Favorit gerne hätte - sondern eher, wie es dem Außenseiter gelegen kommt. Inter ging früh in Führung, doch trotz bester Mailänder Chancen schaffte Hellas den Ausgleich. Es folgte eine der irrwitzigsten Nachspielzeiten der Saison. Mittelfeldmann Davide Frattesi traf für Inter, das 2:1 fiel in der fünften Minute der Nachspielzeit. Und dann, quasi im direkten Gegenzug: Foul im Strafraum, Elfmeter für Hellas, bei Ausführung war bereits die 100. Spielminute angebrochen.

Zwischen Heimerfolg und Blamage stand nun nur noch Yann Sommer, breitbeinig und konzentriert zwischen den Pfosten. Thomas Henry, der Stürmer von Hellas, lief an, verzögerte, Sommer war schon unterwegs in die andere Ecke - doch der Ball, eigentlich resolut geschossen, knallte ans Gebälk und von dort zurück ins Spiel.

15 Mal zu Null gespielt: In Europas Spitzenligen ist kein Torwart besser als Sommer

In Mönchengladbach und bis Mai auch beim FC Bayern zeigte Sommer lange Zeit alles, was einen Tormann von internationaler Spitzenklasse ausmacht: schnelle Reflexe, ein ausgeprägtes Gespür für seine Umgebung, Präzision mit dem Ball am Fuß. Aber diese Aura, die sich in den Köpfen der Kontrahenten ausbreitet? Eher nicht. Im Gegenteil, über seinem halbjährigen Engagement in München waberte die Aura eines anderen, noch mal deutlich größeren Namens: Der von Manuel Neuer, den Sommer wegen dessen Knieverletzung vertreten sollte - obwohl der ja kaum adäquat vertreten werden konnte, weil Neuer nun mal Neuer ist.

Nun aber diese Nachspielzeit vom Samstag, aus der italienische Gazetten den Beweis eine erstaunliche Wandlung ableiteten. Ob es Sommers gestiegene Reputation war, die Veronas Stürmer nervös machte, ob es sein kühler Blick war, mit dem er den Ball an den Pfosten lenkte - all das wird sich nie beweisen lassen. Das Gegenteil allerdings auch nicht. Die Gazzetta dello Sport jedenfalls belohnte Sommer erneut mit einer 6,5 von 10 bei ihren Pagelle, das kann sich sehen lassen im strengen Zensurenspiegel des rosa Blatts. Sommer parierte, was auf sein Tor kam, und bei eigenem Ballbesitz stellte er seine üblichen Expeditionen nach vorn an: Das ist wichtig für Inter-Coach Simone Inzaghi, Spielkontrolle ist für ihn elementar.

Doch auch die grundlegenden Torwart-Statistiken lesen sich mehr als ordentlich. Wettbewerbsübergreifend hat Sommer 15 Mal zu Null gespielt, aus Europas Spitzenligen hat keiner mehr geschafft. Seine Fangquote sowie seine Passgenauigkeit sind enorm, obwohl er sich im Saisonverlauf auch zwei, drei kleine Missgeschicke geleistet hat. Überdies hat Inter nur neun Gegentore in 19 Ligaspielen kassiert, das macht Sommer zu einem zentralen Baustein in der mit Abstand besten Defensive der Serie A. Allein sein Verdienst ist dieser Wert nicht, der Abwehrverbund aus Francesco Acerbi, Alessandro Bastoni und Benjamin Pavard gilt als hochkarätigster des Landes, individuell und im Kollektiv.

Aber das wusste man bereits vor der Saison. Wo man sich dagegen nicht sicher war: Würde Sommer sich da einfügen können? Oder würde er das Niveau runterziehen, weil er für die ganz große Bühne nicht taugt?

Zum Zeitpunkt des Transfers wurde Sommer in Italien noch mit viel Skepsis beäugt

"Yann braucht Vertrauen, um alles abrufen zu können, was er kann", sagte Inzaghi neulich. Vom italienischen Coach bekommt er das, in München war Neuers Schatten zu groß. Das wirkte bis zum Moment nach, in dem er nach Mailand ankam. Ihm schlug einiges an Skepsis entgehen: Mit 1,82 Metern hat er für einen Schlussmann bekanntlich keine Gardemaße, dazu hatte er auf europäischem Elitelevel gerade mal ein halbes Jahr bei den Bayern gespielt, wo sie ihn nicht zwingend behalten wollten. Und dann war da noch sein Status als idea low cost, wie sie das in Italien nennen, wenn Gerüchte um Spieler für den schmalen Geldbeutel aufkommen: Inter zahlte sechs Millionen Euro, nach wochenlangem und zähem Feilschen mit den Bayern um die Ablöse. Die Anhänger der Nerazzurri versetzte die kostengünstige Personalie nicht gerade in Ekstase, mitunter wurde der Transfer sogar mit Häme begleitet. Denn Sommer war der Ersatz für den beliebten und bei Inter herausragenden Kameruner André Onana, der wegen der leeren Klubkassen an Manchester United verkauft wurde, für stolze 52,5 Millionen Euro zuzüglich Boni. Dagegen wirkte Sommer wie ein Schnäppchen im, Achtung: Sommer-Schlussverkauf.

Jubel in der zehnten Nachspielminute: Inter-Torwart Yann Sommer (Mitte) feiert beim 2:1-Sieg den später Elfmeter-Fehlschuss von Hellas Verona. (Foto: Gribaudi/ImagePhoto/Imago)

Und obgleich Inters Sportdirektor Piero Ausilio jüngst lobte, dass Sommer "genau der Spieler" sei, den der Klub gebraucht habe - die Strategie der Mailänder Verantwortlichen hatte ursprünglich mal anders ausgehen. Eigentlich sollte sich Yann Sommer mit Anatolij Trubin duellieren, einem hochtalentierten und hochgewachsenen Schlussmann aus der Ukraine. Der war Inter dann aber letztlich zu teuer; Trubin ging stattdessen zu Benfica Lissabon, weshalb Sommer nahezu konkurrenzlos das Mailänder Tor für sich beanspruchen konnte. Ein Wagnis für den Klub, eine Riesenchance für Sommer.

"Ich fühle mich beschützt und sicher", sagte Sommer jüngst in einem Interview, das war vor allem als Lob an seine Vorderleute gemeint. Glaubt man Aussagen jener Vorderleute, soll der Torwart aber eine ähnliche Wirkung auf sie haben. Als umgebe ihn eine neue Aura, die über seinen Strafraum hinausstrahlt. Vielleicht macht Sommer aber einfach nur einen akkuraten Job.

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