WM 2010: Presseschau:Psychokrieg ist eröffnet

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Schweinsteigers Aussagen über die unfairen Argentinier entzweien die Analysten: Kluger Schachzug oder Bärendienst? Außerdem in der Presseschau: Deutschlands Problemzone und das vermeintlich heiße Herz der Südamerikaner.

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Bastian Schweinsteiger blickt zurück auf das Halbfinale 2006: "Das sitzt noch fest in den Köpfen drin." (Foto: dpa)

Zwei Tage vor dem Duell der DFB-Auswahl gegen Argentinien beherrscht Bastian Schweinsteigers Verbalattacke gegen die Südamerikaner die Medien. Der "emotionale Leader" rückte die Fußtritte und Faustschläge nach dem Ausscheiden der Gauchos von 2006 in den Fokus des neuerlichen Aufeinandertreffens, wie Michael Ashelm (FAZ) beobachtet hat: "Angesprochen auf seine Erinnerung an 2006 sagte Schweinsteiger: 'Natürlich denkt man an das, was nach dem Spiel passierte, die Handgreiflichkeiten der Argentinier. Das sitzt noch fest in den Köpfen drin.' Die deutsche Elf dürfe sich aber nicht von den Provokationen beeinflussen lassen: 'Vor dem Spiel geht das doch schon los. Wie sie gestikulieren und versuchen, den Schiedsrichter zu beeinflussen. Das gehört sich nicht, das ist respektlos.' Weil heutzutage bei der Einstimmung auf wichtige Fußballspiele in den meisten Fällen nur noch politisch korrekte, von gegenseitigem Respekt zollende Formulierungen gewählt würden, bekomme der Auftritt nun eine besonders brisante Bedeutung: "Schweinsteiger ist seit Mittwoch der neue Chef der Abteilung Attacke in der Nationalmannschaft."

Für Jan Christian Müllers Geschmack hat Schweinsteiger mit seinem Rundumschlag etwas über das Ziel hinausgeschossen. In der Frankfurter Rundschau schreibt Müller: "Seine Augen blitzten, als er sich sogar an den argentinischen Anhängern abarbeitete, ganz so, als handele es sich am Samstag um 16 Uhr im Green Point Stadion von Kapstadt nicht ohnehin schon um ein emotional extrem aufgeladenes Fußballspiel. Ihm sei zu Ohren gekommen, 'dass argentinische Fans sich einfach zusammensetzen und anderen Zuschauern ihren Platz wegnehmen. Da sieht man ihre Mentalität.' Eine interessante Ausführung vor dem Hintergrund der Mentalität der ein oder anderen deutschen Gruppe, gerade bei Spielen im osteuropäischen Ausland."

Christian Gödecke (Spiegel Online) erkennt eine Systematik hinter Schweinsteigers Ausführungen: "Schweinsteiger hat ja auch dem Stern ein Interview gegeben, darin wurde er ähnlich deutlich: 'So etwas vergisst man nicht. Einige der Argentinier sind damals mir gegenüber handgreiflich geworden.' Argentinien sei 'sicher nicht eine der fairsten Mannschaften.' Sehr offene Worte sind das in einem Interview, das vor der Veröffentlichung durch den DFB autorisiert werden muss. (...) Will Schweinsteiger die Provokateure provozieren? Im Hinblick auf mögliche Gelbsperren im Halbfinale könne er versucht haben, den Schiedsrichter zu sensibilisieren, was aber auch nach hinten losgehen könne: "Sieben DFB-Kicker sind im Viertelfinale mit Gelb vorbelastet, sie würden bei einer weiteren Verwarnung in einem möglichen Halbfinale fehlen. Jede Aufheizung des Spiels macht diesen Fall wahrscheinlicher. Wenn man so will, könnte sich Schweinsteiger selbst einen Bärendienst erwiesen haben. Schweinsteiger ist einer der sieben Gelbsünder."

Raphael Honigstein wundert sich bei der kanadischen Rundfunkanstalt CBC über den neuen Schweinsteiger: "Seine Äußerungen erstaunen. 'Schweini', wie ihn der deutsche Boulevard immer noch nennt, sagt selten Kontroverses und beteiligt sich gewöhnlich nicht an verbalen Auseinandersetzungen. Dieser neue Ansatz des Jungen aus Bayern verblüfft. Hat er versucht, die Argentinier aus der Fassung zu bringen, indem er ihnen unterstellt, ein Haufen Schwachsinniger zu sein? Wenn das der Fall war, muss es ihn beunruhigen, dass sie das überlegene Team sind. Man ärgert seinen Gegner nicht, wenn man erwartet, ihn zu schlagen."

Michael Ashelm (FAZ) bewertet den Schachzug genau umgekehrt: "Schweinsteigers Attacke zeigt eine unvermutete Seite des Teams, deren Selbstbewusstsein nach dem Sieg gegen England unerschütterlich erscheint."

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Im deutschen Medienwald geht es sich allerdings nicht ausschließlich um Provokationen. Christian Gödecke (Spiegel Online) hat vor dem Duell im Viertelfinale einen entscheidenden Vorteil für die deutsche Elf ausgemacht: "Sie kennt den Druck, wenn man vor dem Turnier-Aus steht." Der Sieg gegen Ghana sei ein typisch deutscher Erfolg gewesen: "Zweikampfhärte statt Zauberei, Intensität statt Individualität - der Erfolg gegen Ghana war schwerer als der gegen England. Es gibt beim DFB sogar die Meinung, dass das glänzende 4:1 gegen England nur möglich gewesen sei wegen des mühsamen 1:0 zuvor." Die Argumentation klinge schlüssig: Deutschland musste im Spiel gegen Ghana nicht nur gegen elf Spieler antreten und die Mehrheit des Stadions, sondern auch gegen die Angst vor dem Aus. Der Druck, der auf den deutschen Nationalspielern lastete, wurde zudem erhöht durch den Zeitpunkt des möglichen Scheiterns - noch nie war ein DFB-Team bei einer WM in der Vorrunde ausgeschieden. Gegen England war der Druck nicht mehr neu."

Problemzone Nummer eins im deutschen Spiel bleibe Position links in der Viererkette, wie Michael Rosentritt vom Tagesspiegel feststellt: "Wenn man der verflixt gut aufspielenden deutschen Elf etwas nachsagen wollte, dann, dass sie auf ihrer linken Abwehrseite verwundbar ist. Wenn man es positiv ausdrücken will, haben deutsche Nationalteams eine gewisse Übung darin, dieses Problem irgendwie in den Griff zu bekommen. Die mittlerweile zur Tradition gewordene Schwäche auf der linken, defensiven Bahn gibt es im Grunde seit den Zeiten, als Andreas Brehme zwischen 1984 und 1994 dort spielte." Auch den Argentiniern dürfte die Schwachstelle aufgefallen sein: "Die beiden Gegentore, die die deutsche Mannschaft im laufenden Turnier gegen Serbien und England hat einstecken müssen, nahmen ihre Entstehung genau auf dieser Seite. Dort kamen bisher Holger Badstuber, Marcell Jansen und Jerome Boateng zum Einsatz. Restlos überzeugen konnte keiner von ihnen. (...) Große Impulse für das eigene Offensivspiel sind von dieser Position nicht zu erwarten. Vorerst reicht es, diese Flanke für gegnerische Angriffe halbwegs unbrauchbar zu machen."

Jörg Hanau (FR) ist mit den Lobeshymnen auf die südamerikanischen Teams bei dieser WM nur bedingt einverstanden: "Uruguay und Paraguay hingegen waren schlicht vom Losglück begünstigt, in der Gruppenphase auf französische Verweigerer und italienische Altherrenfußballer getroffen zu sein, die schon bei der EM vor zwei Jahren in Österreich und der Schweiz eindrucksvoll belegten, sich mittelfristig aus dem illustren Kreis der großen Fußballnationen verabschiedet zu haben. Den Profiteuren Uruguay und Paraguay bescherte dies ebenso unvermittelt wie unverhofft den Gruppensieg und schlagbare Gegner (Südkorea und Japan) im Achtelfinale obendrein." Der Erfolg sei nicht mehr als eine Momentaufnahme: "Wer (wie etwa der ach so clevere Fifa-Boss Sepp Blatter) mutmaßt, die armen Südamerikaner würden mit heißerem Herzen als ihre europäischen Kollegen kicken, um so dem Elend ihrer Heimatländer entfliehen zu können, muss sich als ein ewig Gestriger enttarnt fühlen. Denn nicht nur die meisten Brasilianer oder Argentinier werden längst in Euro bezahlt. Diego Forlán und Luis Suárez, das erfolgreiche Stürmerduo aus Uruguay, schießen ihre Tore für Atletico Madrid und Ajax Amsterdam. Die treffsicheren Elfer-Raus-Schützen Lucas Barrios und Nelson Valdez aus Paraguay sind feste Größen im Team von Borussia Dortmund."

Jonathan Wilson vom Guardian nimmt sich dem einzig verbliebenen afrikanischen Team an: "Der ghanaische Kommentator Ernest sagt: 'Was hier gerade passiert, hätte bereits in den fünfziger und sechziger Jahren geschehen müssen als die Black Stars eine wahre Größe waren. Aber die Fifa wollte uns damals nicht.' Das ist zwar eine leicht parteiische Sicht auf die Geschichte, aber auch nur leicht. Es ist schwer zu sagen, wie Ghana 1966 abgeschnitten hätte. Ihnen wurde die Chance genommen, weil der afrikanische Fußballverband (CAF) die WM boykottierte - aus Protest gegen die Entscheidung der Fifa, Afrika nur einen einzigen Platz zuzuweisen."

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Fifa-Chef Blatter hat in der Diskussion um die Einführung des Videobeweises überraschend seine Meinung geändert. Diese Szenerie erinnere Sven Flohr (Welt Online) an die letzten Tage der DDR: "Monatelang war das Volk für Veränderungen auf die Straße gegangen, die woanders längst eingeläutet worden waren. Die Funktionäre aber gaben sich ignorant und lenkten erst ein, als es keine andere Möglichkeit mehr gab. So geht es nun Blatter. Die Fehler der Schiedsrichter bei dieser Fußball-WM sind so gravierend, der Aufschrei über sie so groß, dass der Schweizer nicht mehr anders kann. Zuvor hatte er sich dem Thema standhaft verweigert. Der Weg zum Videobeweis muss nun vorsichtig beschritten werden. Eine Variante wäre, jedem Team pro Halbzeit einen Blick in die Zeitlupe zu gewähren. Eine ähnliche Regel hat dem Tennis zu neuer Spannung verholfen. Sie könnte zudem den Einfluss korrupter Schiedsrichter beschneiden. Unabdingbar ist die Einführung einer Torkamera, die blitzschnell Auskunft über die Fragen aller Fragen gibt: drin oder nicht drin."

Auch Christoph Fischer und Ulrike John (Westdeutsche Zeitung) beschäftigen sich mit der Thematik und reden gar vom "Kniefall des Joseph Blatter". Die Diskussion, über welches Reformmodell auch immer, sei aber nicht neu: "Blatter erklärte die Schiedsrichter-Problematik nun zur Chefsache. Zehn Tage nach der WM sollen die Experten des Weltverbandes in Cardiff zusammenkommen, um ein weiteres Mal über technische Hilfsmittel zu beraten. Blatter kündigte für den Herbst ein neues Modell an, mit dem das Schiedsrichterwesen einschneidend reformiert werden soll."

Auf stern.de streiten sich hingegen Daniel Barthold und Carsten Heidböhmer um das Für und Wider hinsichtlich des Videobeweises. Barthold hält eine Einführung technischer Hilfsmittel für unausweichlich: "Für den beliebtesten Sport der Welt wäre diese Handhabung und die Einführung des Kameranachweises dringend erforderlich. Logistisch wie finanziell kann dies für die Fifa kein Problem sein. Man muss zudem bedenken, wie verheerend die Fehlentscheidungen für die Mannschaften sind. Es wäre nicht nur einfacher für die Schiedsrichter. Die jüngsten Fehlentscheidungen beweisen, dass ein Umdenken im Fußball stattfinden muss. Die WM-Achtelfinals vom Sonntag sprechen eine eindeutige Sprache." Sein Kollege Heidböhmer sieht das etwas anders: "Erst durch Fehler und menschliches Versagen wird aus Fußball mehr als ein einfaches Spiel. Es wird zu einer Parabel auf das wahre Leben: Auch das ist bekanntlich nicht gerecht, und nicht jeder bekommt, was er verdient hat. Durch den Videobeweis verliert der Sport seinen Reiz, wird ein Stück weit berechenbarer, rationaler. Und, nennen wir es ruhig beim Namen: langweiliger."

Boris Hermann (Berliner Zeitung) beschäftigt sich indes mit Umlauten innerhalb der Namen im deutschen Kader und stellt Folgendes fest: "In den ruppigen Zeiten von Karl Allgower, Lothar Matthaus und den Forster-Brudern hat die deutsche Mannschaft die Fernseh- und Radioreporter dieser Welt noch vor größere Komplikationen gestellt. Inzwischen haben diese Reporter die deutsche Umlaut-Elf aber so sehr ins Herz geschlossen, dass sie unfallfrei über Özil und Löw hinweggehen, ja selbst Per Mörtesacker mit zwei Pünktchen aussprechen. Den bei weitem kreativsten Umgang mit der deutschen Sprachverwirrung auf Spielerbögen hat allerdings der chilenische Fernsehsender Chilevision bewiesen. Bei der Übertragung der Fußball-EM 2004 war das. Nach mehreren missglückten Versuchen, den Namen von Bastian Schweinsteiger auszusprechen, einigen sich alle Kommentatoren darauf, im weiteren Verlauf des Turniers nur noch 'El numero siete' zu sagen, die Nummer sieben."

Die Unterstützung für Löws Elf in der Heimat kennt - wie schon vor vier Jahren - keine Grenzen. Miriam Hollstein (Welt Online) beobachtet eine Nation, die sich mit Vaterlandsstolz schmückt: "Da ist es wieder, das Gefühl von 2006. Die unerhörte Leichtigkeit des Patriotismus. Nur dass sie diesmal mit einer größeren Selbstverständlichkeit daherkommt. Vor vier Jahren löste das neue Phänomen zunächst Verwunderung aus. Dann Unsicherheit. Eine Deutschlandflagge am Auto - schickt sich das überhaupt? Solche Fragen stellt sich heute keiner mehr. Kinder gehen mit Deutschland-T-Shirt zur Schule. Autos tragen neben der Flagge hässliche kleine Deutschlandhüllen um die Spiegel. Es wäre aus stiltechnischem Grund sicher falsch, vom schönen Gesicht des Patriotismus zu sprechen, das wir gerade wieder einmal erleben. Vom freundlichen aber allemal."

Zusammengestellt von Jan-Kristian Jessen und Kai Butterweck.

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