WM 2010: Brasilien - Niederlande:Bezauberndes Versprechen

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Im Viertelfinale der WM treffen mit Brasilien und den Niederlanden zwei große Prinzipien aufeinander: der totale Fußball und das schöne Spiel. Manchmal ergeben sie ein total schönes Fußballspiel.

Christian Zaschke

Brasilien gegen die Niederlande, das ist das vielleicht größte Versprechen, das es im Fußball gibt. Man stelle sich vor, Charlie Chaplin und Buster Keaton beträten gemeinsam zur Unterhaltung des Publikums die Bühne, Martin Scorsese drehte ein Mafia-Epos zusammen mit Francis Ford Coppola, die Beatles gäben ein Konzert mit den Rolling Stones, Eckart Witzigmann kochte mit Ferran Adria ein feines Menu (nein, Johannes B. Kerner moderierte gemeinsam mit Reinhold Beckmann "Verstehen Sie Spaß" passt nicht in diese Reihe). Eine Reise durch Gegenwart und Vergangenheit einer großen Begegnung.

Der Brasilianer Ronaldo tröstete den Niederländer Phillip Cocu, als der einen Elfmeter verschoss. 1998 gewann Brasilien im Halbfinale gegen die Niederländer nach Elfmeterschießen. Mit der Neuauflage der Begegnung prallen in Südafrika auch zwei Fußball-Philosophien aufeinander. (Foto: ag.ap)

Es spielt keine Rolle, dass Brasilien und die Niederlande - anders als die genannten Paare - bei ihren gemeinsamen Auftritten Gegner sind. Sie agieren als Teil eines Ganzen, eines Spektakels, das Fußball-Fans nur selten bei einer WM bewundern dürfen. Aus Sicht des neutralen Liebhabers des Spiels ist es vollkommen egal, wer gewinnt. Zwei große Prinzipien treffen aufeinander, das "schöne Spiel" auf den "totalen Fußball", "jogo bonito" auf "voetbal total". Dass diese Prinzipien in der konkreten Umsetzung nicht immer zu erkennen sind, ist leider wahr; aber allein die Möglichkeit, dass sie sich entfalten könnten, verleiht dem Aufeinandertreffen dieser Mannschaften einen besonderen Zauber.

Bei der WM 1974 trafen die Teams in Dortmund aufeinander. Es war das letzte Spiel der zweiten Gruppenphase und damit de facto ein Halbfinale. Die sonst so kanariengelben Brasilianer traten in blauen Trikots und blauen Hosen an, dazu trugen sie weiße Stutzen. Die sonst so orangefarbenen Holländer traten in weißer Spielkleidung an (immerhin waren die Stutzen orange). Die Hosen waren damals sehr kurz und die Spieler sehr dünn. Es entwickelte sich der "legendarisch harde wedstrijd", mit anderen Worten: eine Treterei erster Kajüte. Die Brasilianer gingen mit der präzisen Strenge von Holzfällern zu Werke, sie traten, sensten und grätschten, einmal schmiss sich Zé Maria dem enteilten Johan Cruyff hinterher und riss ihn zu Boden. Schiedsrichter war der Deutsche Kurt Tschenscher, was doch ein bisschen ungewöhnlich war, da die beiden den Gegner Deutschlands im Endspiel ermittelten. Tschenscher ließ viel durchgehen, die blauen Brasilianer holzten befreit auf, und die weißgewandeten, dünnen Niederländer in ihren sehr kurzen Hosen flogen, taumelten, gingen zu Boden, standen immer wieder auf und spielten einen hinreißenden Fußball.

Pässe wie gemalt

Völlig vergessen: wie Wim van Hanegen den Ball mit dem Außenrist streichelte, liebkoste und manchmal auch trat und auf diese Weise Pässe übers Feld fliegen ließ; man wünscht, Michelangelo würde eine Decke mit diesen Pässen bemalen. Brasiliens Torhüter Leao hielt alles, naja, fast alles, denn Johan Neeskens und der herrliche, sehr dünne, sehr, sehr kurzbehoste Cruyff erzielten zwei Treffer, was den Brasilianer Luis Pereira so sehr ärgerte, dass er gegen Ende Neeskens mit einem derart wahnwitzigen Foul zu Boden streckte, dass Schiedsrichter Tschenscher nicht anders konnte, als ihn des Feldes zu verweisen. Es war das erste Treffen der beiden Teams, der "totale Fußball" hatte sich durchgesetzt, wenn auch nicht gegen das "schöne Spiel".

Wenn an diesem Freitag die Niederländer gegen Brasilien antreten, ist nicht zu erwarten, dass eines der Prinzipien in seiner reinen Ausprägung zu sehen ist. Bekanntlich haben beide Teams ihr Mittelfeld mit mehr Menschen bevölkert als es Strände in Brasilien und Grachten in Amsterdam gibt. Aber dennoch ist da diese Hoffnung. Luis Fabiano. Robinho. Kaka. Wesley Snijder. Robin van Persie. Arjen Robben. Es müsste doch mit dem Teufel zugehen, wenn sie nicht wenigstens in kurzen Momenten das Versprechen einlösen, das dieses Spiel bedeutet.

WM 2010: Achtelfinale Brasilien - Chile
:Endlich wieder Samba

Zur Freude der brasilianischen Fans hat die "Seleção" das Tanzen noch nicht verlernt und Chile mit einem 3:0 aus dem Turnier geworfen. Im Viertelfinale bitten nun die Holländer zum Holzschuhtanz. Die Bilder.

Es war hochofenheiß, als die Mannschaften sich zum zweiten Mal trafen, WM 1994, Dallas, Viertelfinale, die texanische Sonne brannte vom Himmel, als wolle sie das Land bis zum Mittelpunkt der Erde durchtrocknen. Brasilien musste ohne Leonardo antreten, weil der im Achtelfinale gegen die USA seinen Gegenspieler Tab Ramos mit einem Ellbogenschlag gefällt hatte. Statt seiner kam Branco, der Veteran, zum Einsatz, was allgemein als Schwächung galt. Es entwickelte sich umgehend ein legendäres Spiel, Romario brachte Brasilien in Führung, Bebeto erhöhte auf 2:0 (Romario hatte vorher im Abseits gestanden, aber das mochte das Schiedsrichtergespann nicht so eng sehen). Bebeto jubelte, indem er ein imaginäres Kind in den Armen wiegte, Mazinho und Romario wiegten mit, es war eines der schönsten Bilder der WM.

Das wär's gewesen, hätten nicht Dennis Bergkamp und Aron Winter den Ausgleich erzielt, was Branco erzürnte. Anders als Luis Pereira 20 Jahre zuvor lenkte der Linksverteidiger seinen Zorn jedoch nicht in ein brutales Foul, sondern zunächst in einen Lauf nach vorn, spät war es im Spiel, die Sonne brannte, aber der alte Branco lief und lief. Gut, er war erst 30, aber galt bei den Brasilianern als alt. Rund 30 Meter vor dem Tor wurde er gefoult, Freistoß. Nun ist es wichtig zu wissen, dass in Brancos Beinen Elefantenkräfte wohnten. Er legte sich den Ball zurecht, trat zurück, lief an, und dann beförderte er die Kugel in genau doppelter Schallgeschwindigkeit ins Tor (bis heute rätseln Beobachter, warum beim Durchbrechen der Schallmauer kein Knall ertönte).

Kürzlich erzählte Branco, er habe an einem freien WM-Tag seinen Sohn gezeugt. Ohnehin, führte Branco aus, entspanne Sex während der WM ungemein und trage so zu besserem Fußball bei. Völlig vergessen: Wie der niederländische Torwart Ed de Goey im Vergleich zur Geschwindigkeit des Balles wirkte, als simuliere er spaßeshalber eine Zeitlupe. Ebenfalls völlig vergessen: dass Ed de Goey tatsächlich mehr als nur ein wenig so aussah wie Mr. Ed, das sprechende Pferd. Es gab in der fair geführten Begegnung lediglich eine gelbe Karte für einen gewissen Dunga, der noch von sich reden machen sollte.

Herzklopfen im Rhythmus des Spiels

Als im Achtelfinale der Niederländer gegen die Slowakei Robin van Persie ausgewechselt wurde, war er nicht erfreut. Er richtete einige Worte an Trainer Bert van Marwijk. Umgehend setzte der Fernsehsender NOS einen Lippenleser auf die Sache an. Der Lippenleser las von van Persies Lippen: "Du musst Snijder auswechseln." Noch immer ist es den Niederländern gelungen, bei Turnieren Streit im Team zu entfachen, gern auch, wenn es gerade richtig gut lief. Durch diese WM hat sich die Mannschaft bisher tarnkappenbomberheimlich bewegt, kaum jemand schien zu bemerken, wie sie Sieg an Sieg reihte; wäre es so weitergelaufen, hätte das Team womöglich unbemerkt Weltmeister werden können. Nun das. "Das kann er doch sagen", erklärte Snijder diesen Tick zu gelassen, "wir haben Meinungsfreiheit." Seine Meinung zu van Persie behielt er vorerst für sich.

WM 2010: Achtelfinale
:Der Raketen-Robben

Er nimmt Tempo auf, zieht nach innen, schießt - und der Ball ist im Tor. Beim 2:1 der Niederländer gegen die Slowakei macht Arjen Robben das, wofür man ihn so schätzt. Das Spiel in Bildern.

Als die Mannschaften bei der WM 1998 im Halbfinale aufeinandertrafen, hatten die Niederländer so viel Respekt vor Stürmer Ronaldo, dass sie ihn traten, schubsten, rammten und dann wieder traten. Ronaldo focht das nicht weiter an, er erzielte das 1:0. Er hätte auch das 2:0 erzielt, wenn Edgar Davids ihm nicht in letzter Zehntelsekunde mit einer sensationellen (und fairen) Grätsche den Ball stibitzt hätte. Was war das für eine Partie, hier waren sie beide, das schöne Spiel und der totale Fußball, keines der Prinzipien war besser, richtiger oder erhabener als das andere, sie bestanden nebeneinander, und die Herzen der Zuschauer klopften im Rhythmus des Spieles laut in der Nacht.

Patrick Kluivert erzielte den Ausgleich, natürlich, es konnte keinen Sieger aus dem Spiel heraus geben. Beim Elfmeterschießen knieten die Brasilianer nebeneinander auf dem Rasen, die Niederländer standen Arm in Arm, es war das schönste Bild der WM. Philipp Cocu und Ronald de Boer verschossen. Frank de Boer machte seinem Bruder anschließend schwere Vorwürfe, Streit im Team nach dieser herrlichen Nacht. Den letzten Elfmeter für Brasilien schoss ein gewisser Dunga ins Tor, der noch von sich reden machen sollte.

Dungas Profikillergrinsen

Kürzlich, erzählte Dunga, jetzt der Trainer der brasilianischen Nationalmannschaft, habe er Robinho gefragt, ob dieser mit seiner Rolle im Team unzufrieden sei. Robinho zählt zu den Spielern, die gern alle Freiheiten auf dem Platz haben, und Dunga gehört zu den Trainern, für die Freiheit auf dem Platz ungefähr im Rang von eingewachsenen Zehennägeln steht. Und, was hat Robinho geantwortet? Unter Dungas Röntgenblick breitete sich ein Profikillergrinsen aus. "Nicht im geringsten", sagte Dunga. Robinho muss in Brasiliens Mannschaft arbeiten wie alle anderen, und er muss dem Trainer gehorchen wie alle anderen. Dunga war als Spieler Weltmeister mit einer Mannschaft, der man ihren von ihm geprägten oft nüchternen Stil nur deshalb verzieh, weil sie nach 24 Jahren wieder den Titel gewann. Nun will er als Trainer im gleichen Stile Weltmeister werden. Dunga fühlt sich nicht dem schönen Spiel verpflichtet, sondern dem Gewinnen. Er hat es zum Prinzip erhoben.

Beide Teams werden versuchen, äußerst kontrolliert zu spielen, keiner wird es wagen, zu früh anzugreifen. Vielleicht wird es eine Enttäuschung, ein Stellungskampf, ein 0:0, dem ein Elfmeterschießen folgt. Aber vielleicht wird eine der Mannschaften plötzlich von einem eigentümlichen Mut umweht und befreit sich und zeigt das totale, schöne Fußballspiel, und dann könnte die andere ja gar nicht anders, als einfach mitzumachen. Man kann schließlich nicht ewig anspielen gegen die eigene Natur.

© SZ vom 02.07.2010 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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