Tennis in Wimbledon:Wucht schlägt Kunst

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Furchtlos: Jule Niemeier in ihrem verspäteten Erstrundenmatch gegen die French-Open-Finalistin Karolina Muchova. (Foto: Alberto Pezzali/AP)

Jule Niemeier bestätigt bei ihrem Erstrunden-Sieg gegen Karolina Muchova, dass ihr forscher Stil sehr gut mit dem Londoner Rasen harmoniert. Sie schreibt an diesem Nachmittag nicht die einzige deutsche Erfolgsgeschichte.

Von Barbara Klimke, London

Auf Schritt und Tritt besteht in Wimbledon die Gefahr, von der Klubgeschichte vereinnahmt zu werden. Auch ganz ohne eigenes Zutun, wie Jule Niemeier erfahren hat. Zwei Tage lang musste sie auf ihr Erstrundenmatch auf den berühmten Rasenplätzen des All England Lawn Tennis Clubs (AELTC) warten, weil es immer wieder goss, mal tröpfchen-, mal kübelweise, und ihr Spiel jeweils zu ungünstig später Stunde angesetzt war und dann abgesagt wurde. Und so ist Niemeier, 23, aus Dortmund diese Woche Teil jenes Ereignisses geworden, das in die Annalen eingeht als "the biggest wash-out in 19 years": als größter Reinfall seit anno dazumal.

Es hätte natürlich noch schlimmer kommen können: 1888 zum Beispiel fielen drei komplette Spieltage wegen des Inselsommerwetters aus. Und 1996 sang Cliff Richard gegen den Regen an. Er griff als Gast in der Royal Box zum Mikrofon und schmetterte ungefragt drauflos: unter anderem Elvis Presleys "All Shook Up" mit Virginia Wade und Martina Navratilova als Background-Sängerinnen. Es ist wohl nur ein Gerücht, dass der Club nach dieser durch Mark und Bein gehenden Einlage den Bau der Überdachung des Centre Courts beschleunigte.

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Als Niemeier nun endlich am Donnertag, dem vierten Turniertag, auf Platz 12 am Rande der Anlage zum Duell gegen die Tschechin Karolina Muchova, Nummer 16 der Weltrangliste, gerufen wurde, waren keine Regenwolken in Sicht, auch keine Sänger. Nur manchmal hörte man bei ihrem Sieg in drei Sätzen (6:4, 5:7, 6:1) leise, aufmunternde "Jule"-Ruf von der Tribüne. Die deutsche Fed-Cup-Spielerin hat sich eine kleine Gefolgschaft erspielt in London durch ihr Debüt im vergangenen Jahr, als sie bis ins Viertelfinale kam, wo sie dann der Kollegin Tatjana Maria in drei Sätzen unterlag. "Aber es fängt ja wieder bei Null an", hat sie bei ihrer Rückkehr gesagt.

Das Pech, früh im Turnier einer Weltklassegegnerin wie Muchova gegenüberzustehen, verfolgt Jule Niemeier inzwischen seit Jahren. Im Januar in Australien, beim ersten Grand-Slam-Turnier des Jahres, war es die Branchenführerin, Iga Swiatek (Polen), von der sie gleich wieder aus dem Turnier katapultiert wurde. Muchova, 26, hat erst vor vier Wochen bei den French Open in Paris im Finale gestanden, sie gilt als Künstlerin am Ball mit einem Repertoire aus Winkelschlägen, Volleys und Stopps, das die meisten Rivalinnen erblassen lässt. Niemeiers Vorteil ist ein enormes Grundtempo in ihren Schlägen, und damit setzte sie ihre Gegnerin früh unter Druck. Im vierten Spiel des ersten Satzes erkämpfte sie sich den ersten Breakball, den sie vergab; die nächsten vier hatte sie beim Stand von 4:3; aber erst als sie sich Breakball Nummer 13 erkämpft hatte, nahm sie Muchova das erste Mal den Aufschlag ab zum Satzgewinn, 6:4.

Dass sie zu Beginn des zweiten Durchgangs gleich 0:1 zurücklag, war dann eher ihrer Schusseligkeit anzukreiden. Sie leistete sich Doppelfehler und drosch einen Schmetterball ohne erkennbaren Grund in die Maschen. Muchova entwickelte ihrerseits zusehends ein feines Händchen für das Rasenspiel - es war ihr erstes Match in dieser Saison auf diesem Untergrund.

Den erfolgreichen deutschen Nachmittag runden Maximilian Marterer und Alexander Zverev ab

So war es vielleicht die für Muchova noch etwas ungewohnte Grasnarbe, die sie im Entscheidungssatz beim Stand von 2:0 - aus Niemeiers Sicht - straucheln ließ. Sie musste eine medizinische Auszeit nehmen und kam mit verbundenem Oberschenkel auf den Platz zurück. Niemeier erspielte sich nach 2:52 Stunden den Matchball, aber sie gab zu, dass es ihr schwerfiel, "die Verletzung der Gegnerin auszublenden".

Niemeier, momentan nur noch die Nummer 103 der Welt, dürfte diesen ersten vollen Arbeitstag im All England Club gleichwohl als Erlösung empfinden, denn sie hat, vorsichtig ausgedrückt, ernüchternde Wochen und Monate hinter sich. "Ich habe es dieses Jahr nicht richtig hinbekommen", hat sie kürzlich selbstkritisch gesagt. Zwölf Erstrundenniederlagen standen für sie zu Buche, bis sie nach Wimbledon kam. Erst als sie bei den German Open in Berlin vor drei Wochen wieder Rasen unter den Füßen hatte, als sie sich dort durch die Qualifikation spielte und dann die Nummer sechs der Welt, Ons Jabeur, schlug, wuchs die Zuversicht. Die Handprellung, die sie sich in Berlin bei einem Sturz zuzog, ist auskuriert.

Marterers kommender Gegner ist der formstarke Halle-Sieger, Alexander Bublik

Auch Alexander Zverev, der wie Niemeier bis zum vierten Tag auf seinen ersten Einsatz warten musste, gewann sein Match - 6:4, 7:6 (4), 7:6 (5) gegen den niederländischen Qualifikanten Gijs Brouwer. "Er war ein schwerer Gegner. Der Regen war ein schwerer Gegner. Ich bin einfach froh, wieder in Wimbledon zu sein", erklärte er danach. Während sich die Kollegin mit Gesellschaftsspielen die Zeit vertrieben hatte und beim "Mensch-ärgere-dich-nicht" verlor, verzog er sich ins gemietete Haus, wie er erzählte, und hat "unfassbar viel geschlafen".

Gestatten, Maximilian Marterer, erstmals für die 3. Runde von Wimbledon qualifiziert. (Foto: Mike Hewitt/Getty)

Diesen beiden, Zverev und Niemeier, sogar einen Schritt voraus ist Maximilian Marterer aus Nürnberger. Er siegte gegen Michael Mmoh aus den USA, 7:5, 7:6 (5), 6:4 und konnte sich dabei vor allem auf seinen exzellenten Aufschlag verlassen. Für Marterer war es schon das zweite Match, es hat ihn nun erstmals in seiner Karriere in die dritte Runde von Wimbledon befördert, in der er auf den Sieger von Halle/Westfalen, Alexander Bublik, trifft. Diese dritte Runde verpasste hingegen der Kölner Oscar Otte, der dem Kolumbianer Daniel Galan 3:6, 6:3, 3:6, 6:7 (3) unterlag.

Zverev muss bereits am Freitag wieder auf den Court, gegen den Japaner Yosuke Watanuki. Jule Niemeier trifft ebenfalls am Freitag auf die Ungarin Dalma Galfi. Sie können also weiter Klubgeschichte schreiben. Sogar ohne Einträge im Kapitel: Wetter.

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