Wimbledon:Kerber besteht den Stresstest

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Angelique Kerber manövriert sich gegen Simona Halep aus heiklen Situationen und steht nun im Wimbledon-Halbfinale. Geholfen hat ihr dabei eine schmerzhafte Erfahrung.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Ulrich Klaus hatte sich ein gutes Plätzchen ausgesucht, der Präsident des Deutschen Tennis-Bundes saß mit Vize Dirk Hordorff auf einer der Bänke, die vor dem Eingang zur Spielerterrasse stehen. Die Wichtigen von Wimbledon kommen früher oder später vorbei, kurz zuvor flanierte hier entspannt Jack Nicklaus, die Golf-Legende. Klaus, ein pensionierter Schulleiter, ruhte in sich, während unterhalb die Massen ihre Runden drehten auf der verschachtelten Anlage des All England Club.

Vor 20 Jahren hat Steffi Graf als letzte Deutsche in Wimbledon gesiegt, gegen die Spanierin Arantxa Sanchez-Vicario, es war ihr 20. von unglaublichen 22 Grand-Slam-Titeln. Nun, an diesem frühlingshaften Sommertag in London, trat Angelique Kerber an, die Australian-Open-Siegerin, die im Januar einen Mini-Boom in Tennis-Deutschland ausgelöst hatte. Das wollte sich Klaus nicht entgehen lassen. Kerber konnte ja dem Unterfangen, ihrem Idol Graf nachzueifern, auch in Wimbledon deutlich näher kommen. Mit einem Sieg gegen Simona Halep, 24, stünde sie im Halbfinale. "Kerber ist das Aushängeschild unserer Frauen, vielleicht sogar des ganzen DTB", sagte Klaus vorab und schwärmte von ihrer Athletik, Kampfeslust, Integrität. Trotzdem erwartete er ein knappes Match gegen die Rumänin. Genau so kam es dann auch.

Kerber siegte mit 7:5, 7:6 (2), die 28-Jährige aus Kiel, die in Polen lebt, wo ihre Großeltern eine Akademie betreiben, hat damit zum zweiten Mal nach 2012 das Halbfinale in Wimbledon erreicht und nun sogar theoretisch die Chance, die Nummer eins der Weltrangliste zu werden am Samstag, am möglichen Finaltag. "Ich bin überglücklich, es war so eng, aber alles was zählt, ist, dass ich den letzten Punkt gemacht habe", sagte Kerber strahlend: "Ich fühle mich richtig gut, genieße jeden Tag hier und glaube auch, dass ich gerade das beste Tennis meiner Karriere spiele."

Beide machen einen Vorteil zum Nachteil

Die Linkshänderin mit der beidhändigen Rückhand ist es also mal wieder, die die deutsche Fahne hochhält, sie war bereits die einzige, die es im Einzel ins Achtelfinale geschafft hatte von 16 DTB-Startern. Nun nimmt ihre Geschichte in SW 19, London, derart Fahrt auf, dass sich zwangsläufig Parallelen zu Melbourne aufdrängen. Das Schöne: In London gibt es auch einen Fluss, in den sie springen könnte.

Zunächst aber wartet am Donnerstag im Halbfinale Venus Williams, 36, auf sie als Gegnerin. Die Amerikanerin, Schwester von Serena (die im Halbfinale auf die Russin Elena Vesnina trifft), bezwang die Kasachin Jaroslawa Schwedowa 7:6 (5), 6:2. Kerbers Viertelfinal-Match gegen Halep war ein Duell, das sogar einen direkten Bezug zu Steffi Graf hatte. Die erfolgreichste Spielerin in der Geschichte des modernen Tennis (seit 1968) hatte sich um beide schon ausgiebig gekümmert, Kerber wie Halep waren bei der inzwischen 47-Jährigen und deren Gatten Andre Agassi zu Besuch in Las Vegas und haben sich trainieren lassen und Tipps eingeholt. In der Gegenwart war es von Beginn an eine hochklassige, aber auch merkwürdige Partie - der Vorteil auf Rasen, der Aufschlag, wurde von beiden in einen Nachteil verwandelt.

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Die Weltranglisten-Vierte Kerber wie auch die Fünfte Halep servierten so, als hätten sie Angst, jemanden der erlauchten Persönlichkeiten in der Royal Box zu treffen, am Mittwoch gab sich etwa Schauspielerin Sienna Miller die Ehre und auch Michael Stich, dessen Wimbledonsieg sich am Donnerstag zum 25. Mal jährt. Im ersten Satz konnte anfangs nur Kerber ihr Aufschlagspiel zum 1:0 durchbringen, anschließend folgten acht Breaks in Serie.

Nach einem Doppelfehler Haleps holte sich Kerber mit 7:5 den ersten Durchgang, die auch im zweiten aggressiver als die Weltranglisten-Fünfte blieb. Sie vergab zwar eine 5:3-Führung im andauernden Break-Festival, im Tie-Break indes wackelte sie kein bisschen. "Die beiden sind so eng beieinander, beide können gewinnen", hatte vorab Tracy Austin analysiert, die zweimalige Grand-Slam-Siegerin aus den USA, die in Wimbledon fürs Fernsehen arbeitet. Es sprach für Kerber, dass sie aber wieder einmal enge Situationen besser bewältigte. Diese Qualität hat sie ja zum Champion gemacht.

In Melbourne hatte sie in der ersten Runde einen Matchball der Japanerin Misaki Doi abgewehrt, die sie im Achtelfinale diesmal klar besiegte. In der Runde zuvor hatte die Hamburgerin Carina Witthöft vier Satzbälle und doch reüssierte Kerber, die in diesen oft verregneten Tagen von London zu verstehen gab, dass sie insbesondere aus einer jüngeren Niederlage viel gelernt habe.

Ende Mai hatte sie eine Enttäuschung bei den French Open zu überwinden, sie kam von Beginn an nicht in diesen Turnierflow, der sie im Idealfall weit tragen kann. Kerber trat in Runde eins gegen die allerdings dann stark aufspielende Holländerin Kiki Bertens nicht mit ihrer erhofften Mischung aus An- und Entspannung an, sondern war nur angespannt. Sie scheiterte und erkannte im Nachhinein, dass sie sich zu sehr unter Druck gesetzt hatte, ihre eigene Erwartungshaltung war nach ihrem Coup von Melbourne Gift im Kopf. Sie ermahnte sich dank dieses Aufpralls, dass ihr die Eichhörnchentaktik doch mehr liegt und erfolgsversprechender ist, sie hat in Wimbledon daher wie ein Papagei immer und immer wieder die gleichen Sätze gesagt, sie denke von Runde zu Runde, sie müsse sich steigern und nicht daran denken, "was passieren kann".

"Ich glaube, es hat Angie geholfen, Ruhe zu finden", sagte in dieser Woche Barbara Rittner, die Kerbers Halbfinaleinzug auf dem Centre Court mit ihrem Freund, VW-Chef Matthias Müller, verfolgt hatte. Kerber hatte nach Paris einige Tage in Polen verbracht und ihr aufregendes erstes Halbjahr reflektiert. "Das zeigt doch, dass man solch einen Erfolg wie in Australien erst verarbeiten muss." Und dann sagte die Bundestrainerin den entscheidenden Satz: "Jetzt hat Angie den Vorteil, dass sie weiß, wie man Titel gewinnt."

© SZ vom 06.07.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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