Hannah Meul reckt ihren linken Arm nach oben, den Ärmel ihrer Trainingsjacke hat sie vorher aufgekrempelt. So bleiben alle Blicke nun an den vier Buchstaben hängen, die sich die Kletterin mit einem Stift auf den Arm geschrieben hat: C-H-R-I, eingerahmt mit Sternen und Herzen. Mit Tränen in den Augen schaut sie darauf, die rechte Hand liegt auf ihrer Brust, weiß vom Magnesia. Um den Hals der EM-Zweiten hängen jene Silbermedaille, die sie kurz zuvor verliehen bekam - und das in der Plastikhülle steckende Namensschildchen für die Athleten, allerdings nicht ihr eigenes. Sondern das von Christoph Schweiger. Er hätte an diesem Wochenende mit ihr und den anderen deutschen Kletterern und Kletterinnen bei diesem Weltcup-Auftakt in Hajioji in Japan an den Start gehen sollen.
"Am 10. April wurde die Welt auf den Kopf gestellt", so schreibt es Hannah Meul in einem Instagram-Post. Christoph Schweiger und seine Freundin gingen am Ostersonntag zum Eisholen. Beim Überqueren eines Zebrastreifens wurden sie von einem Auto erfasst. Der Fahrer des Wagens soll alkoholisiert gewesen sein, so schreibt es Kletterkollege Alexander Megos auf Instagram. Schweiger starb, seine Freundin wurde mit schweren Verletzungen ins Krankenhaus eingeliefert. Wenige Tage später hätte "Chri", wie sein Kletterteam ihn nannte, mit den anderen nach Japan fliegen sollen, zum ersten Weltcup der Saison. "Nach Japan zu gehen, ohne dass er zeigen kann, wofür er tagein, tagaus gearbeitet hat, fühlt sich unfair an", schreibt Hannah Meul über Schweiger.
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Der 21-jährige gebürtige Ingolstädter war ein aufstrebendes Boulder-Talent, er kletterte, seitdem er laufen konnte, wie er in einem Video sagte. Er war Mitglied des deutschen Kletterkaders und nahm seit 2015 regelmäßig an Wettkämpfen teil. 2020 boulderte er auf einen zweiten Platz bei der deutschen Meisterschaft, bei den Europameisterschaften in München 2022 erreichte er einen starken achten Platz, ebenso in seiner Spezialdisziplin, dem Bouldern, also Klettern ohne Seil auf Absprunghöhe. Sein Ziel, einmal auf einem Podium zu stehen, hatte er fest vor Augen. Auch das Leadklettern interessierte ihn. Vergangenes Jahr nahm er am Weltcup im Seilklettern in Edinburgh teil. Er hoffte, sich auch in dieser Disziplin weiterzuentwickeln.
"Er war das Herz des Teams", sagt Ingo Filzwieser am Telefon. Der Österreicher ist Bundestrainer des deutschen Kletterkaders, er betreut die Athletinnen und Athleten am Kaderstützpunkt in München. Chri war dort einer seiner Schützlinge. Er habe ihn vier Jahre lang trainiert, vier Tage die Woche. "Das ist super hardcore, wir haben das alle noch lange nicht verarbeitet", sagt der 40-Jährige. Viele aus dem Team wohnen gemeinsam im Olympischen Dorf in München, sie sehen sich täglich, kochen zusammen, verbringen nicht nur das Training, sondern ihren Alltag miteinander. Das galt auch für Christoph Schweiger. Aktuell befindet sich das Team noch in Japan, am kommenden Wochenende findet gleich der nächste Weltcup in Seoul statt. Für Interviews stehen die Aktiven im Moment nicht zur Verfügung, sie sollen ihren Fokus auf den Wettkämpfen halten, irgendwie.
"Es hat vielen wehgetan, dass sie nicht auf seine Beerdigung gehen konnten", sagt der Bundestrainer
"Es hat vielen wehgetan, dass sie nicht auf seine Beerdigung gehen konnten", weil sie da schon in Japan waren, sagt Filzwieser. Aber sie hätten hier an ihn gedacht, gingen an diesem Tag gemeinsam essen, sprachen über Chri. Für Schweigers Eltern haben sie ein Fotobuch gemacht und ein T-Shirt bedruckt, auf dem sie alle unterschrieben haben. "Es ist sehr schwer für die Athletinnen und Athleten im Moment", sagt ihr Trainer. Nur beim Klettern können sie abschalten, haben den Kopf frei, müssen nicht nachdenken.
Beim Weltcup in Hajioji erreichte Hannah Meul aus Köln als einzige Deutsche das Finale und belegte den zweiten Platz, eine "gewaltige Leistung", wie ihr Trainer findet. Brooke Raboutou aus den USA errang Gold, Platz drei ging an Anon Matsufuji aus Japan. Die deutschen Männer taten sich etwas schwerer, was laut Filzwieser auch am Routenbau lag. Der steht nach dem Weltcup wieder "massiv in der Kritik", sagt er. Sechs Sprünge in vier Bouldern im Halbfinale, zählt Filzwieser auf. Das sei zu viel, "es geht doch ums Klettern und nicht um eine Zirkusshow". Dynamische Elemente seien in Maßen in Ordnung, aber es müsse ausgeglichen sein. Er hoffe nun auf bessere Boulder beim Weltcup in Südkorea. In dieser Saison stehen mit der Weltmeisterschaft im August in Bern und den Kontinentalmeisterschaften im Oktober in Laval, Frankreich, zwei wichtige Qualifikationsevents für Olympia in Paris an.
Filzwieser beschreibt Christoph Schweiger als ruhigen, starken Charakter, der immer ein Lächeln hatte. Auch wenn mal etwas nicht so gut lief, sei er am nächsten Tag wieder positiv gestimmt ins Training gekommen. Das habe auch positive Effekte auf das Team gehabt. Mit seinen 1,80 Meter war er eher groß und sehr muskulös, habe hart trainiert für seinen Erfolg. "Sein Körper spiegelte aber nicht so ganz wider, wie er in Wirklichkeit war: einfühlsam, sensibel, wie ein Fels in der Brandung, der für jeden ein offenes Ohr hatte", sagt Filzwieser. Schweiger hatte vier Brüder, drei davon Kletterer. Er studierte BWL an der Technischen Universität in München.
In einem Interview mit einem seiner Sponsoren sagte Christoph Schweiger über seine Ziele: Er wolle ein Boulder-Problem im Schwierigkeitsgrad 8C klettern, was ihm im November vergangenen Jahres mit der Route "Big Island" im französischen Fontainebleau gelang. Und er wolle den Spaß am Klettern nie verlieren. Im Herzen seines Teams klettert er weiter. In ihrem Instagram-Post vor dem Weltcup in Japan schreibt Hannah Meul am Ende: "Let's climb for Chri", lasst uns für Chri klettern. Dahinter eine Flamme und eine Faust. Ihre Silbermedaille, sie war für ihn.