Vierschanzentournee:Mit großem Hunger gegen die Widrigkeiten

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So weißgedeckt war es im Vorjahr - und wohl nicht beim Start in die Vierschanzentournee am Sonntag. (Foto: Felix Roittner/Witters)
  • Unmittelbar vor der Vierschanzentournee ist die Situation beim deutschen Team merkwürdig: Bester Springer ist gerade der 25-jährige Karl Geiger, Richard Freitag und Severin Freund ringen weiter um ihre Form.
  • Das heißt: Das Team mit seiner bisherigen Rangordnung scheint es nicht mehr zu geben: Oben ist unten, unten ist oben.

Von Volker Kreisl, Oberstdorf

Bis zur letzten Landung der dritten Tournee-Station 2017/2018 war Richard Freitag gekommen. Schon den ganzen Tag über lag ein trüber Himmel über Innsbruck. Es regnete, und dann, als die letzten Springer dran waren, begann es zu dämmern. Obwohl die Besten gefährlich weit nach unten kamen, obwohl die Landezone kaum noch Konturen aufwies, verkürzte die Jury nicht den Anlauf. Und Freitag, der im Vorjahr als erster Deutscher seit Sven Hannawald 2002 die Vierschanzentournee hätte gewinnen können, landete auch sehr weit unten. Einen kurzen Moment blieb er auf den Skiern und war wieder vorne, dann unterlag er der Schwerkraft, stürzte, und die Hoffnung der deutschen Skispringer war abermals geplatzt.

Nun folgt die 67. Ausgabe dieser Vierschanzen-Serie, die deutschen Arenen in Oberstdorf und Garmisch-Partenkirchen sind ausverkauft, die Laster mit den mobilen Bühnen sind in Stellung gegangen, die Beschallungsanlagen für die Tribünen installiert. Und auch wenn die Springer des Deutschen Skiverbandes gerade keine Topfavoriten, sondern Mitfavoriten sind, so greift die Hoffnung um sich, dass es diesmal endlich klappt. Nur: Die Situation bei den Deutschen ist ziemlich kompliziert, vielleicht so kompliziert wie noch nie.

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Skispringer, jene Sportler, die durch Wind und Wetter jederzeit aus allen Träumen gerissen werden können, erklären grundsätzlich nicht den Sieg zum Ziel. Auch Bundestrainer Werner Schuster, der das DSV-Team auf einem langen Weg wieder in die Weltspitze und sogar zu Olympiasiegen geführt hat, auch er sehnt diesen Tournee-Erfolg herbei, er sagt: "Der Hunger ist groß." Aber er schiebt sofort das Mantra aller Springer hinterher: "Wir wollen nichts erzwingen."

Die Frage ist nur, wie gelassen man bleiben kann, wenn die Uhr tickt. Schuster ist seit gut zehn Jahren für die deutschen Springer verantwortlich und sein Vertrag beim DSV läuft zum Saisonende aus. Ob er verlängert wird, lassen beide Seiten schon ziemlich lange offen, man will sich erst einmal auf diese Tournee und die WM im Februar konzentrieren. Es kann also gut sein, dass dies die letzte Chance für das System Schuster beim DSV ist, auch den letzten großen Titel zu holen.

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Aber die Zukunft ist offiziell vertagt, die "Systeme" wurden über Weihnachten "heruntergefahren", wie Schuster es formuliert, die Gedanken also gelöscht, die Sorgen auf null gestellt. Auch das ist in diesem Jahr nötiger denn je, denn das Team mit seiner bisherigen Rangordnung ist nicht wieder zu erkennen. Es wirkt, als wäre es einmal umgekrempelt worden: Oben ist unten, unten ist oben.

Richard Freitag fehlt weiterhin die Form

Mit Karl Geiger, 25 Jahre alt und aus Oberstdorf, steht plötzlich einer an der Spitze, der bis vor zwei Wintern noch um den letzten freien Weltcup-Platz im Team kämpfte. Geiger ist Vierter im Gesamtweltcup, siegte in Engelberg kürzlich erstmals bei einem Weltcup und hat nun die besten Chancen, ein oder mehrere Tourneespringen zu gewinnen. Zweitbester ist der sonst eigentlich Vorletzte der deutschen Weltcupmannschaft: Auch Stephan Leyhe ist gerade in einer Form, die ihn aufs Tourneepodest bringen könnte.

Und so geht es weiter. In der Mitte der Mannschaft steht Markus Eisenbichler aus Siegsdorf, der schon immer in der Mitte war, er springt mal wie befreit und dann wieder, als wäre er von zu viel Ehrgeiz blockiert. Richard Freitag, im Dezember 2017 noch der Top-Favorit, fehlt weiterhin die Form, er ist gerade Vorletzter der deutschen Top Sechs. Und Severin Freund, der Weltmeister, mit dem der Erfolg der Schuster-Ära überhaupt begonnen hatte, ist nach seiner langen Verletzungszeit gerade Letzter. Nur Andreas Wellinger passt nicht in das umgestülpte Schema. Der Olympiasieger springt zwar unter seinem Niveau, hat aber bei der Tournee schon oft seine Form gefunden, vielleicht gelingt es ihm diesmal schon zu Beginn.

Das sind eine Menge unterschiedlicher Optionen und Probleme, und da fährt man zur Vorbereitung am besten weit weg, zum Beispiel nach Lillehammer in Norwegen. In der Stille des Nordens hatte Schuster vor Weihnachten die Möglichkeit, auf alle überraschenden Erfolgs- oder Sorgenfälle einzeln einzugehen: "Wir haben in Ruhe an der individuellen Sprungtechnik gearbeitet", sagt er. Geiger und Leyhe müssen darin bestärkt werden, an ihr Momentum zu glauben, und nicht womöglich daran, dass die Luft an der Weltspitze sowieso zu dünn ist für sie, wie es die Ergebnisse der vergangenen Jahre vermeintlich belegen. Eisenbichler, Wellinger und Severin Freund dagegen brauchten den Hinweis für den entscheidenden kleinen Schritt zum Durchbruch, Freitag hingegen brauchte nur Ruhe.

Er verspürte in Engelberg nach einer etwas schrägen Landung wieder Schmerzen in der Hüfte, absolvierte nur leichtes Bewegungstraining und beginnt in Oberstdorf ohne vorheriges Sprungtraining. Weil er das aber schon einmal, bei der Skiflug-WM im vergangenen Jahr nach dem Innsbrucker Dämmerungssturz, erfolgreich schaffte, bleibt Freitag zuversichtlich: "Da war ich in einer ähnlichen Situation, und am Ende hatte ich eine Medaille um den Hals baumeln." Nämlich Bronze.

"Die wissen genau, dass hier das Leistungsprinzip herrscht"

Es bleibt den deutschen Springern in ihren neuen Rollen gar nichts anderes übrig, als das Beste aus der ungewohnten Situation zu interpretieren. Chef Schuster könnte nun Angst um den Teamfrieden haben und entsprechend besänftigen, doch er denkt gar nicht daran. Die Situation, sagt er, sporne die Springer nur an: "Die wissen genau, dass hier das Leistungsprinzip herrscht". Dass Wellinger und Freitag während des Vorweihnachts-Trainings Fortschritte gemacht haben, beweise doch nur, dass diese "Situation das Beste ist, was dir als Trainer passieren kann".

Es ist gerade alles anders bei den Deutschen, aber auch alles möglich. Vielleicht verlieren sie bald ihren Erfolgstrainer, vielleicht starten sie mit dem Nachfolger eine neue Ära. Und in der Tournee können sie schon im ersten Springen wie immer alles verlieren - oder auch bestens starten. Und im letzten Springen in Bischofshofen, da könnte, nachdem Wellinger, Freund und Freitag scheiterten, Karl Geiger gewinnen.

© SZ vom 29.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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