Entscheidung der Vierschanzentournee:Der Verspielte und der Spaßmacher

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Springen am Samstag in Bischofshofen um den Tourneegesamtsieg: Andreas Wellinger (rechts) und Ryoyu Kobayashi (Fotomontage). (Foto: Frank Hoermann/Sven Simon/Imago)

Die 72. Vierschanzentournee hat sich auf ein Duell verdichtet. Im Finale von Bischofshofen stehen sich in Andreas Wellinger und Ryoyu Kobayashi zwei Ausnahmespringer gegenüber, die Brüder sein könnten.

Von Volker Kreisl, Bischofshofen

Tempo war schon immer seine Leidenschaft. Sonst hätte er nicht früher, als er jung war, in schnellen Autos gesessen. Und sonst hätte er sich auch nicht zu diesem seltsamen Sport bewegen lassen, der auch auf Tempo beruht, erst in einer schmalen Eisspur, dann hoch in der Luft.

Ryoyu Kobayashi hat gerade wieder einen Gegner überholt. Relativ spielerisch ist er im Klassement der 72. Vierschanzentournee am Führenden Andreas Wellinger vorbeigerauscht. Kurz vor dem Finale in Bischofshofen sind die Rollen vertauscht, wenn auch die Abstände immer noch klein sind: Kobayashi führt mit 857,6 Punkten vor Wellinger (852,8), also mit rund 2,6 Metern. Als die Betreuer dies Wellinger durchfunkten, ging dieser gleich zum Angriff über: "Zweieinhalb Meter, das ist doch nichts!"

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Der Rest der Favoriten hatte sich da längst gewaltige Rückstände aufgeladen. Vor allem der Österreicher Stefan Kraft, der im Dezember eine großartige Siegesserie hingelegt hatte, kam bei dieser Tournee nicht mehr zu großen Sprüngen. Von der Gruppe der anfangs starken Deutschen fielen Karl Geiger, Philipp Raimund, auch Pius Paschke, der Überraschungsspringer zuletzt, deutlich zurück. Der Österreicher Jan Hörl kam mit seinem Sieg in Innsbruck am Mittwoch zu spät, und Skisprungnationen wie Polen und Norwegen befinden sich gerade in einer Formkrise. In Bischofshofen im Pongau, südlich von Salzburg, steigt also mal wieder ein klassisches Schanzenduell, wenn man so will, ein Showdown. Wellinger versus Kobayashi.

Kobayashi hat Wellinger zwar im Klassement überholt - aber dieser hat dessen Rücklichter direkt vor sich

Der Chiemgauer ist auch dem jüngeren Publikum spätestens nach seinem Auftaktsieg in Oberstdorf bekannt; anders verhält es sich mit Ryoyu Kobayashi, der wohl gerade den besseren Lauf hat. Im Grunde ist es einfach: Wellinger und Kobayashi ähneln sich stark, sie könnten Brüder sein. Wellinger ist 28, Kobayashi 27 Jahre alt, und beide wirken noch etwas verspielt. Der Mann vom SC Ruhpolding hat es sich zur Gewohnheit gemacht, die Kollegen ab und zu aufzumuntern, etwa mit einer Pointe, auch wenn er schon auf dem Startbalken sitzt. Es wirkt so, als wäre er mit seiner Lebensart fast immer auf der Sonnenseite. Noch ein bisschen mehr lebt Kobayashi seine lebensfrohe Seite aus, denn er hatte sie sich ja auch erkämpfen müssen.

In Japan ist Zurückhaltung eine Tugend, jedenfalls war es bei der älteren Generation so, jener, aus der auch der große Springer Noriaki Kasai stammt. Der zweimalige Olympiazweite hatte sich einmal den jungen Ryoyu vorgeknöpft und ihm klargemacht, dass Skispringen eine ernste Angelegenheit sei und man sich nicht unnötig ablenken lassen dürfe. Nun war Kasai zwar eine Autorität, Kobayashi allerdings ist ein Rebell.

Damals entstand der Begriff "Neo-Japaner", oder auch "verrückter Kerl", wie Kobayashi nachschob. Heute, zehn Jahre später, würde man vielleicht sagen: smarter Bro. Kobayashi wurde jedenfalls gefragt, wie er sich charakterlich einordne, und da antwortete er, dass er eben anders sei, verspielter, vielleicht auch einfach lebensfroher, mit Lust auf Erlebnisse. Es war eine für westliche Ohren selbstverständliche Antwort, doch musste er sich damit zu Hause erst mal durchsetzen.

Kobayashi hatte in dieser Hinsicht freilich einen großen Vorteil. Er mochte das Skifahren, aber er mochte noch viel mehr kennenlernen. Luxusartikel etwa, schnelle Autos, moderne (eher nicht beruhigende) Musik hören, oder einfach mal abhängen mit Freunden. Und trotzdem war er im Skispringen stark, weil ihm dieser Sport mehr und mehr gefiel. Der schnelle Japaner im Alltag erwies sich auch als schneller Japaner auf der Schanze. Was Funktionäre oder Trainer anordneten, setzte Kobayashi nicht unbedingt um, sondern hörte auf seine Intuition.

Beim Springen fliegt Ryoyu Kobayashi meist in der zweiten Etage

Kobayashi wirkte durch sein jugendliches Gesicht lange wie ein ewiges Talent, dabei bastelte er an einer überragenden Technik. Seine Stärke, die er bei dieser Tournee pünktlich in Form gebracht hat, ist nun im Finale zu besichtigen: Er profitiert von einem besonders guten Absprung und baut schon kurz nach dem Schanzentisch seine Führung aus. Auch in Innsbruck schoss er in beiden Finalsprüngen in die zweite Etage und segelte derart weit, dass er auch den lange in der Gesamtwertung führenden Wellinger überholen konnte - wenngleich Wellinger Kobayashis Rücklichter nun direkt vor sich hat.

Beide beherrschen die Luft. Kobayashi vielleicht ein bisschen besser, weil er mit seinem gewaltigen Absprung automatisch eine längere Strecke durch den Wind reisen kann. Der ehemalige deutsche Bundestrainer Werner Schuster erklärte, als er Kobayashi in der Phase dessen entscheidender Entwicklung erlebte: "Jetzt hat er eine Tür aufgemacht. Das ist unglaublich, wie er springen kann." Schuster neigte nicht zu übertriebenem Lob, aber Trainer sind immer begeistert, wenn sie die Geburt eines Topsportlers erleben: "Er wirkt auch ruhig und klar und ist ein guter Wettkämpfer geworden."

Zwei Tournee-Gesamtsiege hat Kobayashi bereits errungen, einen davon im Jahreswechsel 2018/19, per Grand-Slam-Version, also mit vier Siegen bei vier Springen. Dieses war erst zwei Springern zuvor gelungen, dem Deutschen Sven Hannawald 2002 und dem Polen Kamil Stoch 2018. Diesem verspielten Ausreißer hatte man das nicht zugetraut, aber vielleicht gerät Ryoyu Kobayashi nun auch in eine andere Phase, in die des Vorbildes, mehr noch, eines Teamkapitäns. Mit 27 Jahren ist man ja fast schon biblisch alt für einen waschechten Neo-Japaner.

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