Wie glücklich muss eine Person sein, die nach einem 0:6, 2:6 vor 23 000 Zuschauern im größten Tennisstadion der Welt in den Katakomben sitzt und sagt: "Also ganz ehrlich, ich hatte mir da ein bisschen mehr von ihr erwartet." Diese glückliche Person ist Jelena Ostapenko; man könnte sie auch als Tennis spielende Software bezeichnen, denn sie kennt ausschließlich: eins und null. Bei eins haut die French-Open-Siegerin von 2017 mal eben schlappe 31 Gewinnschläge raus und besiegt die Weltranglistenerste Iga Swiatek; bei null produziert sie 36 Stunden später 36 leichte Fehler gegen Coco Gauff und scheidet aus - die Gegnerin spielt im Halbfinale gegen Karolina Muchova.
Ben Shelton bei den US Open:Er nimmt die Zuschauer mit in seinen Kopf
Der 20-jährige Ben Shelton begeistert mit seinem Halbfinaleinzug das Publikum bei den US Open. Er ist ein Typ, wie sie ihn in den USA lieben: selbstbewusst an der Grenze zu Arroganz.
Nein, das ist keine Anomalie, sondern gehört zur Philosophie der 26-jährigen Lettin: Wer immer voll draufhaut, semmelt hin und wieder eben ordentlich daneben - das führt zu verheerenden Niederlagen nach grandiosen Siegen oder zu herrlich verrückten Resultaten wie gegen Petra Kvitova im Frühling in Indian Wells: 6:0, 0:6, 4:6. Kurz davor in Dubai, gegen Aryna Sabalenka: 6:2, 1:6, 1:6. Im August gegen Jennifer Brady: 6:7, 6:0, 6:7.
"Natürlich glaube ich daran, dass ich noch einmal ein Grand-Slam-Turnier gewinnen kann", sagt die Lettin
Tennis ist ein Sport der Wiederholungen: Man schlägt den Ball über ein Netz in ein Feld, immer und immer wieder; Alexander Zverev beim Sieg gegen Jannik Sinner zum Beispiel insgesamt 977 Mal. Viele Spieler berichten davon, wie wichtig ihnen deshalb klare Strukturen sind. Nichts fürchtet ein Mensch, der klare Strukturen braucht, so sehr wie Chaos; und deshalb spielt niemand gern gegen Ostapenko, die Chaos nicht nur in Kauf nimmt, sondern regelrecht aufblüht darin. Die Ausreißer nach unten, die schlimmen Tage - na und? Dafür gibt es eben auch die Ausreißer nach oben, die andere nicht schaffen. Deshalb sagt Ostapenko, ohne mit der Wimper zu zucken: "Natürlich glaube ich daran, dass ich noch einmal ein Grand-Slam-Turnier gewinnen kann."
Man fragt sich als Normalsterblicher bisweilen, was man von Profisportlern lernen kann, und die Antwort ist meist: Nicht so viel, wenn man beim Schokifuttern von Novak Djokovic erzählt bekommt, wie er sich als Belohnung für den Triumph im Australian-Open-Finale 2012 gegen Rafael Nadal nach eineinhalb Jahren mal wieder ein winziges Stückchen Schokolade gegönnt habe. Man respektiert die Disziplin des Serben - auch deshalb, weil man weiß, dass man selbst dazu nicht fähig ist.
Was man von Ostapenko und ihrem Umgang mit sich selbst lernen kann: Es gibt Tage im Leben, da läuft es einfach - ohne dass man groß was dafür kann. Und es gibt Tage, da läuft alles schief, und man kann nichts dagegen tun. Da gilt es wohl, das Chaos zu akzeptieren, vielleicht sogar darin aufzublühen. In Wimbledon steht über dem Eingang zum Centre Court geschrieben: "Wer Triumph und Desaster erlebt - und beiden Blendern gleichermaßen begegnet." Wie man das tut, zeigt die wunderbar glückliche Jelena Ostapenko.