Premier League:Mao würgt die Goldene Gans

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Lebendig begraben - und kurz vor der Auferstehung? Das Schicksal des 2019 ruinierten Viertligisten FC Bury hat die Regierung um Boris Johnson auf den Plan gerufen. (Foto: Action Images via Reuters)

Eine Aufsichtsbehörde soll die Premier League unter die Lupe nehmen: Woher kommt das viele Geld in Englands Fußball? Wer sind die Gesellschafter? Die Klubs sehen die Initiative der Johnson-Regierung als Gefahr.

Von Sven Haist, London

Eigentlich müsste auch in England der Fußball entscheiden, wie seine Zukunft aussehen soll. Aber wem gehört der Fußball überhaupt, den Interessenvertreter wie Fans und Funktionäre gleichermaßen für sich beanspruchen? Weil das Spiel erst mal für alle da ist, die sich dafür begeistern, wäre es vermutlich die charmanteste Lösung, wenn der Fußball über sich selbst bestimmen könnte (oder stellvertretend für ihn der Ball und die Tore), um diesen ewigen Machtkampf zu beenden.

Je nach politischen und wirtschaftlichen Systemen sowie der Sozialisation der Bevölkerung hat sich der Fußball in den Ländern unterschiedlich organisiert. Während das Spiel in Deutschland bis heute auf einem gemeinorientierten Modell beruht, in dem die Mitglieder der Vereine die Mehrheit der Stimmanteile an ihren Klubs halten ("50+1-Regel"), hat sich der Inselfußball von Anfang an gewerblich aufgestellt. Schon zu Gründungszeiten der Football League 1888 konnten sich Klubs auf den Joint Companies Stock Act aus dem Jahr 1856 berufen. Der erlaubte es den Vereinen, sich in Privatfirmen mit beschränkter Haftung umzuwandeln, deren Kapitalanteile wie Devisen gehandelt wurden.

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Infolge der Liberalisierung der britischen Wirtschaft unter Margaret Thatcher 1979 und des beispiellosen Aufstiegs des Fußballs zum Weltsport lockten die Klubs vermögende Geldgeber an. Sei es aus Kalkül, Liebhaberei oder neuerdings Imagegründen: Investoren kauften fast alle Profiklubs in England auf. Dank steigender TV-Einnahmen stieg der Gesamtumsatz der Vereine seit den Premier-League-Anfängen 1992 von 250 Millionen Pfund pro Saison auf mehr als fünf Milliarden - bis der Turbokapitalismus der Liga nun einen Backlash verursacht hat, der ihr zum Verhängnis werden könnte.

Nach den Plänen für eine Super League der superreichen Klubs drohte Johnson mit einer "legislativen Bombe"

Die immer abstruser wirkenden Auswüchse der Branche, die Hochstapelei der Unterklasseklubs sowie der Größenwahn der Spitzenvereine haben in England zuletzt einen moralischen Aufstand entfacht. Der Lizenzentzug des wirtschaftlich zugrunde gerichteten Viertligisten FC Bury 2019 sowie weitere drohende Insolvenzen im Zuge der Pandemie haben die Regierung um ihren populistischen Anführer Boris Johnson auf den Plan gerufen. Das Fass zum Überlaufen brachte letztlich der im April unter Beteiligung von sechs englischen Großklubs (Arsenal, Chelsea, Liverpool, Manchester City, Manchester United, Tottenham) gescheiterte Coup, über eine europäische Superliga das anerkannte nationale Ligasystem zu eigenen Gunsten aus den Angeln zu heben. Vollmundig drohte Johnson, diesem Geschäftsgebaren mit einer "legislativen Bombe" die Grenzen aufzuzeigen, weil er einerseits um den Stellenwert des weltweit prestigeträchtigen Exportschlagers Premier League fürchtete - und andererseits die Chance sah, durch hartes Durchgreifen wichtige Wählerstimmen im fußballaffinen Norden für sich zu gewinnen.

Als erste Reaktion auf seine Ankündigung beauftragte das Parlament vor einem halben Jahr die ehemalige Sportministerin und jetzige Abgeordnete Tracey Crouch, die Strukturen und Regularien des Inselfußballs zu untersuchen. Nach mehr als 100 Gesprächsstunden mit mehr als 130 Klubvertretern veröffentlichte Crouch, 46, kürzlich ihren angeblich an den Forderungen der Fans orientierten Abschlussbericht ("Fan-led Review of Football Governance"). Diesen hatte sie zusammen mit einem zehnköpfigen Panel ausgearbeitet, zu dem der ehemalige englische Nationaltrainer Roy Hodgson, Denise Barrett-Baxendale (Geschäftsführerin FC Everton) und der Chef der Fanvereinigung, Kevin Miles, gehörten. Der 162-seitige Report - mit dem leeren Bury-Stadion als sinnbildlichem Titelfoto - enthält dabei tatsächlich den angekündigten Zündstoff, der fortan ähnliche Sprengkraft entwickeln könnte wie die Grundsatzreformen 1888 und 1992.

Im Report der Regierung heißt es: Zu den für die Lizenzierung der Klubs "relevanten Informationen" solle auch "das Ansehen enger Familienmitglieder und Geschäftspartner der Eigentümer" zählen. Für Steve Parish, Vorstandschef des Londoner Vorstadtklubs Crystal Palace, hört sich das nach Durchleuchtung wie "in Nordkorea" an. (Foto: MB Media Solutions/Imago)

Die 47 Empfehlungen "zur Nachhaltigkeit des englischen Fußballs" umfassen zehn Themengebiete, die sich über Regulationen aller Art, Tests für Klubbesitzer und -direktoren sowie den Schutz traditionsreicher Kluberbschaften erstrecken. Im Kern fordert Crouch die Regierung auf, eine "neue unabhängige Aufsichtsbehörde" zur Kontrolle der Profiklubs zu verabschieden, deren "Ermittlungs- und Durchsetzungsbefugnisse" die derzeitigen Liga-Dachorganisationen und den nationalen Fußballverband FA quasi entmachten würden.

Der Rechtsrahmen für die Einführung eines solchen autarken Apparats mit rund 50 Gutachtern soll bis zur Spielzeit 2023/2024 stehen. Bis dahin ist von einer vom Steuerzahler vorfinanzierten, etwa fünf Millionen Pfund teuren Schattenregulierungskommission die Rede. Laut den Ausführungen würde das Kontrollgremium in Zukunft dafür zuständig sein, die Geschäftsbilanzen der Vereine im jährlichen Lizenzierungsverfahren zu inspizieren - und regelmäßig die Integrität, den Geschäftsplan und die Herkunft des Vermögens der neuen und bestehenden Klubbesitzer zu überprüfen.

Zu den künftig "relevanten Informationen", heißt es im Report, solle auch "das Ansehen enger Familienmitglieder und Geschäftspartner der Eigentümer" zählen. Für Steve Parish, Vorstandschef des Londoner Vorstadtklubs Crystal Palace, hört sich das eher nach einem Vorgang "in Nordkorea" an als nach dem konservativ liberal geprägten Großbritannien. Sollten die neuen Kriterien nicht erfüllt werden, könnten die Klubeigner sogar zum Anteilsverkauf "gezwungen" werden.

Im Rahmen des Lizenzverfahrens müssten die Klubs ihren Fans zudem ein Vetorecht einräumen ("golden share"), mit dem die Anhänger eine Änderung des Vereinsnamens oder -wappens und eine Veräußerung des Stadions verhindern könnten. Darüber hinaus möchte Crouch eine Geldumverteilung zwischen den Ligen erwirken: durch eine "solidarische Transferabgabe" der Premier-League-Klubs, die im Unterpunkt 9.30 auf zehn Prozent der Ablöse eines Spielertransfers taxiert wird. Aktuell fließen vier Prozent in die Kassen der FA und weitere fünf Prozent zu den unterklassigen Klubs in Form von Solidarbeiträgen bei internationalen Verpflichtungen.

Für die Klubs liest sich der 162-seitige Report der Regierung wie ein kommunistisches Manifest

Während die drastischen Vorschläge bei den an einer Umfrage zum Bericht beteiligten Fans (etwa 21 000) und vor allem beim Parlament mit Wohlwollen aufgenommen wurden, stößt das Dokument in der Premier League auf Ablehnung. Besonders die Klubs der Mittelklasse, die keinen unmittelbaren Abstieg fürchten und das Superliga-Desaster nicht zu verantworten hatten, fühlen sich vor den Kopf gestoßen. Aston Villas Geschäftsführer Christian Purslow echauffierte sich, dass "bei einer Überregulierung der finanziell und kommerziell sehr erfolgreichen Premier League" die Gefahr bestehe, die "goldene Gans" zu töten. In die gleiche Kerbe schlug sein Amtskollege Angus Kinnear von Leeds United, der im Stadionheft die Forderung nach einer unabhängigen Regulationsbehörde und einer satten Transferabgabe als "ebenso fehlerhaft wie radikal" abstempelte. Der Inselfußball werde zerstört, wenn ihm eine dem "maoistischen kollektiven Agrarismus" ähnelnde Philosophie aufgezwungen werde, so Kinnear. Aus seiner Sicht würden die unteren Ligen "keine künstlich aufgeblähten Mittel" benötigen, sondern müssten vielmehr lernen, innerhalb ihrer Möglichkeiten zu leben. Wobei Leeds seinerzeit wiederum ohne den Premier-League-Aufstieg 2020 selbst in arge Finanznot geraten wäre.

An der Wortwahl lässt sich der Grad der Empörung über die Regierungsinitiative erkennen. Kürzlich erklärte Sportminister Nigel Huddleston, das Parlament akzeptiere "prinzipiell" die Erschaffung eines unabhängigen Aufsichtsgremiums. Um dieses Schreckensszenario abzuwenden, haben die Klubs der Premier League offenbar den Kompromiss geschmiedet, die Kontrollinstanz in die Strukturen der FA einzupflegen, um so zumindest den Staat auf Distanz zu halten. In diesem Zusammenhang ist es vermutlich auch zu sehen, dass der FC Liverpool in dieser Woche öffentlichkeitswirksam einen Fanbeirat ins Leben rief, der die Ansichten der Mitglieder bei der strategischen Ausrichtung des Klubs vertreten soll. Diese Annäherungsversuche seitens der Premier-League-Vereine sollen das Parlament jetzt wohl gütig stimmen. Eine Stellungnahme der Regierung wird fürs neue Jahr erwartet.

Der FC Bury ist indes noch einmal glimpflich davongekommen: Zwei Jahre nach dem Ligaausschluss hat eine Fangruppierung den insolventen Klub kürzlich mitsamt des maroden Stadions erstanden. Offenbar soll Bury bald wieder in den Spielbetrieb zurückkehren - was sicher ganz im Sinne des Fußballs wäre.

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