Union Berlin in der Krise:Eine Mannschaft ohne Superkräfte

Lesezeit: 3 min

Keine Tore und keine Idee: Mittelstürmer Kevin Behrens wartet schon lange auf einen Treffer für Union Berlin. (Foto: Luciano Lima/Beautiful Sports/Imago)

Bei Union Berlin verschärft sich die Krise: Nach der achten Niederlage in Serie herrscht Ratlosigkeit - Manager Ruhnert spricht vielsagende Worte über Trainer Fischer.

Von Felix Haselsteiner

Die Sachlage war eindeutig in Köpenick, am 1. April 2023. Die eine Mannschaft hatte gewonnen, in gewohnt ökonomischem Stil, aber letztlich verdient 3:0 gegen den Tabellenletzten, der gar nicht so schlecht gespielt hatte - aber unglücklich vor dem Tor geblieben war, hinten anfällig und vor allem: punktlos. Die eine Mannschaft war damals Union Berlin, Tabellendritter, mehr oder weniger unschlagbar. Die andere Mannschaft war der VfB Stuttgart, Tabellenletzter, mehr oder weniger immer geschlagen.

Einig waren sich beide Seiten darin, dass eine radikale Umkehrung der Gegebenheiten in näherer Zukunft nicht in der Ost-Berliner Luft lag an jenem Tag. Berliner wie Stuttgarter hätten wohl einen Aprilscherz vermutet, wenn man ihnen damals verkündet hätte, was sechseinhalb Monate später Gewissheit ist: Der VfB Stuttgart ist Tabellenzweiter nach einem 3:0 bei Union Berlin, das zum achten Mal in Serie verloren hat.

8. Spieltag der Bundesliga
:Leverkusen spielt Schach in Wolfsburg

Die Mannschaft von Xabi Alonso ist nach dem 2:1 weiter Erster - auch die anderen Spitzenteams siegen, doch Stuttgarts Stürmer Serhou Guirassy verletzt sich. Das Wichtigste zum Spieltag.

Von Tim Brack, Andreas Liebmann und Martin Schneider

"Komplexe Frage, da spielen viele Faktoren eine Rolle", sagte Stuttgarts Trainer Sebastian Hoeneß später im Interview bei Sky, angesprochen auf jenen Lauf seiner Mannschaft, der so unvorhergesehen daherkommt, dass man selbst in Schwaben noch mit der Aufarbeitung beschäftigt zu sein scheint. Ein Kernfaktor ist sicherlich Hoeneß selbst, dessen Karriere wesentlich beeinflusst wurde von jenem 0:3 des VfB in Berlin im April: Tags darauf wurde sein Vorgänger Bruno Labbadia entlassen. Am 3. April, einem Montag, übernahm Hoeneß. Seitdem folgte ein monatelanger Aufstieg, unterbrochen nur von einer Sommerpause.

Faktor Nummer zwei: Stürmer Serhou Guirassy hat inzwischen so viele Tore erzielt, dass er in diesem Jahrhundert nur noch mit Cristiano Ronaldo vergleichbar ist, der einst in der Saison 2014/15 bei Real Madrid in seinen ersten acht Ligaspielen noch ein Tor mehr geschossen hatte als der Stuttgarter Stürmer. Guirassys Kopfballtreffer in der 16. Minute war sein 14. Tor in dieser Spielzeit, er brachte dem VfB die frühe Führung, aus der heraus sich eine unspektakuläre Feldüberlegenheit entwickelte - zwei Schüsse flogen in der ersten Halbzeit insgesamt auf die Tore.

Bei Union stürmt ein Quartett, das sich durch seine Torlosigkeit auszeichnet

Eine "reife Leistung" sah Trainer Hoeneß in der Folge, gekrönt von zwei späten Treffern zum 2:0 und 3:0 durch Silas und Deniz Undav, des Ersatzes also für den verletzt ausgewechselten Guirassy - der in den kommenden Wochen noch von größerer Bedeutung sein dürfte: Guirassy wird mit einer Muskelverletzung für "einige Wochen" ausfallen, kommunizierte der Verein am Sonntag.

Hoeneß schien das nach dem Spiel nicht allzu sehr aus der Ruhe zu bringen, er klang vielmehr beinahe wortgleich wie Urs Fischer in der Vorsaison. Ein ums andere Mal hatte der Unioner Trainer ein Jahr lang vor den Kameras erklärt, wie gefestigt seine Mannschaft spiele, wie widerstandsfähig sie sei und ganz allgemein: wie schön die Welt sich aus der Perspektive Köpenicks gestalte.

Nun, nach acht Niederlagen in Serie, gehören derartige Sätze der Vergangenheit an. Dafür beschreiben Hoeneß' Worte kurioserweise auch die Situation der Berliner: Die Lage ist ebenso komplex, es spielen viele Faktoren eine Rolle; nur führen sie in der Tabelle nach unten. Ein zentraler Punkt ist die Offensive, in der kein Guirassy spielt, dafür ein ständig rotierendes Quartett talentierter Stürmer, die derzeit ihre Torlosigkeit verbindet. Gegen Stuttgart begann Fischer mit Kevin Volland und Kevin Behrens in der Startelf, zur Halbzeit brachte er David Fofana und Sheraldo Becker, doch egal wie sehr sie es auch versuchten: Ein Treffer gelang keinem von ihnen.

Auch der sonst so besonnene Union-Trainer Urs Fischer verzweifelt so langsam. (Foto: Annegret Hilse/Reuters)

Wie eine Mannschaft, die ihre etwas diffusen Superkräfte namens "erzwungene Tore" und "stabile Defensive" verloren hat, wirkt Union Berlin - und ist gefährlich weit abgekommen vom Pfad des Erfolgs. Trainer Fischer analysierte zwar wie gewohnt grundehrlich die begangenen Fehler ("Bei den Gegentoren stellen wir uns nicht wirklich gut an", "Gegen den Ball waren wir nicht aggressiv genug"), allerdings: Wie ein Mann mit allzu vielen Antworten wirkt er derzeit nicht an der Seitenlinie; die Frustration über das abhanden gekommene Spielglück war ihm anzumerken. Wie Manager Oliver Ruhnert.

Ruhnert spricht vielsagende Worte über Trainer Fischer

"Viel, viel Glück" brauche man aktuell, um in so einem Spiel gegen eine selbstsichere Mannschaft bestehen zu können, sagte Ruhnert, die Grundelemente des Fußballspiels müsse man nun "wieder von der Mannschaft einfordern". Gedanken mache man sich in Köpenick daher aktuell einige, wohl auch um Themen, die vor einem halben Jahr völlig undenkbar gewesen wären.

"Urs Fischer macht sich, glaube ich, aktuell selbst die meisten Gedanken", sagte Ruhnert, als er angesprochen wurde auf die Rolle des erfolgreichsten Trainers in der Vereinsgeschichte: "Es ist bei uns im Verein so, dass wir miteinander sprechen und gemeinsam versuchen, eine Lösung zu finden." Die letzte Entscheidung liege aber bei Fischer, den Unions Sportchef als Typ beschrieb, der "ganz klar im Leben steht" und wisse, "welche Verdienste er hier hat". Und der zugleich - und bei diesen Worten des Managers musste man in Köpenick hellhörig werden - "immer wieder sagt, dass Profifußball ein Ergebnissport ist".

Die Ergebnisse sprechen aktuell eine klare Sprache und bei allen vergangenen Erfolgen auch nicht für Fischer. Sie werden zudem unterstützt von der brutalen Erkenntnis, dass die Erfolge der Vergangenheit bei der Bewältigung der Gegenwart nicht unbedingt helfen: Am Dienstag reist schon der SSC Neapel an, zum Gastspiel bei einem Verein, dem aktuell nicht unbedingt nach Königsklasse zumute ist.

© SZ - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

SZ PlusDortmunds 1:0 gegen Werder
:Spitzenteams der Tabelle widerspricht man nicht

Der BVB spielt mal wieder über weite Strecken unspektakulär - aber er geht auch gegen Bremen als Sieger vom Platz. Für das Publikum ist die neue Effizienz gewöhnungsbedürftig.

Von Freddie Röckenhaus

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: