Fußballtrainer mit Behinderung:Das etwas andere Kopfballungeheuer

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"Ich will nicht meine Leidensgeschichte erzählen und mich in die Opferrolle stecken": Josip Hrgovic. (Foto: privat/oh)

Josip Hrgovic kam als Kriegsflüchtling nach Deutschland und hat hier seine Berufung gefunden: als Amateurfußballtrainer im Rollstuhl arbeitet er beim TuS Geretsried mit viel Hingabe - und will noch höher hinaus.

Von Adrian Kühnel

Wie gut muss jemand seine Füße bewegen können, um ein Fußballtrainer zu sein? Man muss wohl erst Josip Hrgovic kennenlernen, um sich überhaupt eine solche Frage zu stellen. Eigentlich hätte er dieses Treffen viel lieber an einem Rasenplatz vereinbart, doch es ist Winterpause, deshalb sitzt er nun in seinem Münchner Wohnzimmer, erzählt von seinem Leben, seiner Leidenschaft und seiner Vorliebe für inverse Außenverteidiger. Hrgovic ist Fußballtrainer. Der 31-Jährige hat dunkle Augen, kurze, schwarze Haare, und seinen Trainerstuhl hat er immer dabei. Es ist sein Rollstuhl.

Auf das Gefährt ist er angewiesen, solange er denken kann, aber das spielt keine Rolle, sobald Hrgovic über Fußball spricht. Der inverse Außenverteidiger etwa, so erklärt er, solle dem Team mehr Flexibilität verleihen. Bei eigenem Ballbesitz wird er eher zum dritten Innenverteidiger, wodurch die Mannschaft bei Kontern des Gegners besser abgesichert ist. Pep Guardiola hat diesem Ansatz Popularität verliehen, "das habe ich mir von ihm abgeschaut", sagt Hrgovic grinsend. Er kann mindestens so leidenschaftlich über Fußball reden wie der Coach von Manchester City.

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Sobald er damit beginnt, bemerkt man seinen Rollstuhl kaum noch, er verschwindet in der Wahrnehmung. Hrgovic freut sich, wenn ihm das die Leute bestätigen. Man müsse ihn nur besser kennenlernen und verstehen, wozu er trotz seiner Beeinträchtigung imstande sei, sagt er.

Als er wenige Monate alt ist, fliehen seine Eltern mit ihm vor dem Jugoslawienkrieg nach Deutschland

Hrgovic kam in Kroatien auf die Welt, mit einer angeborenen Gelenksteife und dadurch bedingter Muskelschwäche. Als er wenige Monate alt war, flohen seine Eltern mit ihm vor dem Jugoslawienkrieg nach Deutschland. Seine Behinderung hat er angenommen, trotzdem spricht er viel lieber über ganz andere Dinge. "Ich will nicht meine Leidensgeschichte erzählen und mich in die Opferrolle stecken", stellt er klar. Das widerspreche seinem Naturell.

Dafür spricht er ausführlich über große Trainer und deren Taktik. Über das Team von Jürgen Klopp beim FC Liverpool zum Beispiel, das prädestiniert sei für laufintensives Pressing. Über die Ansätze von Thomas Tuchel beim FC Bayern oder Marco Rose bei RB Leipzig, die er "sehr interessant" findet, ebenso wie die Trainingsgestaltung des Bundestrainers Julian Nagelsmann, dem er gerne mal über die Schulter schauen würde. Keines seiner Vorbilder erfinde zwar den Fußball neu, "aber die taktischen Ansätze kann man rausfiltern", sagt Hrgovic. Auch er legt großen Wert darauf, dass seine Spieler den Gegner sehr hoch anlaufen. Er zeigt auf den Fernseher neben sich und versichert schmunzelnd, dass er darauf "sehr viel" Fußball schaue.

Seinen ungewöhnlichen Werdegang hat er wohl seinen Freunden aus Kindertagen zu verdanken. Als er etwa fünf Jahre alt war, erinnert er sich, nahmen ihn seine Kumpel mit auf den Bolzplatz. "Ich stand mit dem Rollstuhl im Sturm und habe ein paar Kopfballtore gemacht." Es waren schöne Zeiten, die ihn offensichtlich geprägt haben. Trotz seiner Beeinträchtigung sei er "ganz normal aufgewachsen", sagt er heute, und als er etwa zehn war, da hörte er von einem der Freunde einen einschneidenden Satz: "Du siehst beim Fußball Dinge, die andere nicht sehen."

Er machte sein Abitur, studierte Sportmanagement, doch es war jener Satz vom Bolzplatz, der ihn später dazu ermutigte, sich bei Vereinen um eine Trainerstelle zu bewerben. 2014 hatte er damit Erfolg, beim TSV Neuried "sah man etwas in mir". Er durfte zunächst die E-Jugend übernehmen, das Training nach seinen Vorstellungen leiten - das zahlte sich aus. Auch, "weil es für meine Spieler nie ein Problem war, dass ich im Rollstuhl sitze".

"Irgendwie paradox" findet er das Ganze immer noch. Denn er konnte ja selbst nie kicken wegen seiner Behinderung. Trotzdem hatte er irgendwann selbst bemerkt: "In den kleinen Details habe ich viel gesehen. Beispielsweise in der technischen Ausführung, wann der falsche Fuß verwendet wird oder wann man nach der Ballannahme in den richtigen Raum läuft." Man muss all das nicht unbedingt selbst gemacht haben, um es zu erkennen.

"Josip ist ein Typ mit einer sehr klaren Struktur und einem klaren Konzept. Das ist unglaublich gewinnbringend, vor allem im Umgang mit Jugendlichen." Hrgovic bei der Spielbeobachtung seines TuS Geretsried. (Foto: privat/oh)

Neun Jahre lang war Hrgovic in Neuried als Trainer tätig, er schaffte es, dort hauptamtlich zu arbeiten, und schätzt sich noch heute glücklich, dass man ihm dort eine Chance gab. "Ich habe fast alle Mannschaften mal trainiert, sowohl im Jugendbereich als auch die Männer und die Damen", erzählt er. In einer Doppelfunktion aus Trainer und Sportlichem Leiter betreute er zwischenzeitlich sogar drei Mannschaften parallel, darunter die Männer in der Bezirksliga. Ende 2022 hat er sich dann trotzdem dazu entschlossen, eine neue Herausforderung zu suchen, wollte sich höherklassig beweisen, wohl wissend, dass er mit der Aufgabe seiner hauptamtlichen Tätigkeit ein finanzielles Risiko einging. "Ich bin unfassbar ambitioniert", erklärt er. Das Finanzielle habe bei ihm nie im Vordergrund gestanden. Um sich etwas dazuzuverdienen, arbeitet er nebenbei in der Marketing-Agentur eines Freundes.

Am Ende eines mehrmonatigen Nachdenkprozesses sei der Abschied aus Neuried nicht zuletzt auch dank seines Bruders Ferdinand erfolgt. Er bestärkte Josip darin, sich weiterzuentwickeln, "weil ich weiß, dass er sein Potenzial noch nicht ausgeschöpft hat und in den nächsten Jahren noch viel möglich ist für ihn", berichtet Ferdinand. Mehrere Vereine hätten sich bei Josip Hrgovic gemeldet, darunter der TuS Geretsried mit seinem Sportchef Martin Grelics. Im Januar 2023 übernahm Hrgovic die Geretsrieder U19 in der Landesliga und die Kreisliga-U17, seit Beginn dieses Jahres ist er auch Sportlicher Leiter für die Jugend. Und bis jetzt passt das offenbar - für alle.

"Ich wusste, was Josip geleistet hat, und habe mich daher um ihn bemüht", sagt Grelics am Telefon. "Josip ist ein Typ mit einer sehr klaren Struktur und einem klaren Konzept. Das ist unglaublich gewinnbringend, vor allem im Umgang mit Jugendlichen." Und der Rollstuhl? "War nie ein Thema", betont Grelics. Für Außenstehende sei das natürlich "speziell, aber es ist hervorzuheben, wie er das schafft und managt". Und auch für die Spieler sei es zunächst eine neue Erfahrung gewesen, "aber man hat gemerkt, dass sie sehr schnell auf einer Wellenlänge sind".

Florian Adam, der Hrgovic als Co-Trainer nach Geretsried begleitet hat, hebt Hrgovics Empathie hervor, wie viel er mit den Spielern rede und wie sehr er auf die zwischenmenschliche Ebene achte. "Das bekommt er richtig gut hin!" Auch der Geretsrieder U19-Kapitän Julian Schedler berichtet von vielen Einzelgesprächen. "Josip kann sehr gut vermitteln, was er vermitteln will." Schnell habe sich herausgestellt, dass da "etwas Gutes entstehen kann".

"Ich bin unfassbar ambitioniert": In Neuried, links als Assistent von Landesliga-Trainer Marco Gühl, betreute Hrgovic zeitweise drei Mannschaften gleichzeitig. (Foto: Lakovic/Imago)

Neben dem Gespür fürs Zwischenmenschliche ist Hrgovic ein akribischer Arbeiter, der Wert auf Details legt, um Mannschaft, Spieler und auch sich selbst voranzubringen. Die Videos für seine Analysen schneidet er selbst, und vor jedem Training notiert er sich genau seine Vorstellungen, ehe es dann möglichst temporeich und intensiv zur Sache geht. "Es geht darum, spielnah zu trainieren. Du hast immer eine Anschlussaktion, der mentale Aspekt ist sehr wichtig", referiert er.

Die Erlebnisse damals auf dem Bolzplatz, sie waren nicht die einzigen, die ihn auf seinem ungewöhnlichen Weg geprägt haben. Irgendwann erzählt Josip Hrgovic in seinem Wohnzimmer von einem Schicksalsschlag, einem Familiendrama, das sich vor acht Jahren in Kroatien zutrug. Nichts für die Zeitung, aber es sei doch eine harte Zeit gewesen damals. "Ich habe dadurch gemerkt, dass es viel schlimmere Dinge im Leben gibt, als im Rollstuhl zu sitzen", sagt er bewegt. Zugleich sei der Fußball in dieser Zeit zu seiner Zuflucht geworden und damit noch wichtiger in seinem Leben.

"Es reicht nicht, gleich gut zu sein. Ich muss immer beweisen, besser zu sein!"

Er hat in dieser Sportart schon viel erreicht, aber noch viel mehr vor. Einen Trainerjob in der A-Jugend-Bundesliga strebt er an, in Geretsried traut man ihm das zu, und auch er selbst ist sich sicher, dass er das könnte. Vor gut einem Jahr hat er eine Woche lang bei der U19 der SpVgg Unterhaching hospitiert, durfte einen Teil eines Trainings leiten - und sagt, dass man dort beeindruckt gewesen sei, "dass ich mit einer Klarheit, gesunden Autorität und Dominanz auftrete und überhaupt nicht vorsichtig und schüchtern wirke".

Natürlich passiere es ihm immer wieder, dass er wegen des Rollstuhls für einen Zuschauer gehalten werde und die Leute dann verwundert seien, wenn sie feststellten, dass er der Trainer ist. Aber das kennt er. "Es reicht nicht, gleichgut zu sein wie die anderen. Ich muss immer beweisen, besser zu sein!" Josip Hrgovic muss eben fachlich überzeugen, auch wenn es auf dem Weg zu höherklassigen Trainerjobs für ihn große Hürden gebe, Vorurteile zu besiegen, Strukturen und Hierarchien zu überwinden. "Ein guter Trainer", da ist er sich inzwischen sicher, "muss früher nicht zwangsläufig selbst gespielt haben, das steht in keiner Stellenausschreibung."

Und selbst wenn: Er ist bereit, das Gegenteil zu beweisen.

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