Verletzungen im American Football:Vor den Kopf gestoßen

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Nichts geht mehr: Dolphins-Quarterback Tua Tagovailoa bleibt nach der Attacke von Cincinnatis Josh Tupou am Boden liegen. (Foto: Kareem Elgazzar/USA Today Network/Imago)

Binnen vier Tagen erleidet Tua Tagovailoa gleich zwei Gehirnerschütterungen. Während NFL und Spielergewerkschaft wieder einmal über Regeländerungen diskutieren, ist offen, ob der Quarterback der Miami Dolphins je wieder Football spielen wird.

Von Jürgen Schmieder, Los Angeles

Schon der erste Vorfall lieferte verstörende Bilder: Tua Tagovailoa taumelte über den Rasen wie einst Trevor Berbick nach dem linken Haken von Mike Tyson durch den Ring. Es war nicht zu übersehen, dass der Quarterback der Miami Dolphins nach diesem Zusammenprall mit einem Gegenspieler von den Buffalo Bills nicht in Ordnung war; die Spaghetti-Beine trugen ihn nur ein paar Schritte, dann sank er auf die Knie und musste - von Kollegen gestützt - in die Kabine geführt werden. Wenig später kehrte er aber zurück aufs Feld und beendete die Partie.

Vier Tage später, am vergangenen Donnerstag, da lag Tagovailoa schon wieder auf dem Feld; und die Bilder diesmal, von der Partie gegen die Cincinnati Bengals, sind noch schlimmer. Abermals war Tagovailoa umgerissen worden, diesmal krallte er krampfhaft die Finger zusammen und versuchte, sie irgendwie zu seinem Kopf zu führen; doch er schaffte es nicht. Er wurde auf einer Trage abtransportiert.

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Stand jetzt ist nicht gewiss, ob er jemals wieder wird Football spielen können. Derzeit scheint er zwar nur zwei Gehirnerschütterungen erlitten zu haben. Zwei Gehirnerschütterungen innerhalb von vier Tagen können freilich katastrophale Folgen haben, und die Frage an die US-Footballliga NFL lautet nun: Wie konnte es dazu kommen - und warum?

Nur vier Tage vor dem Zwischenfall gegen die Bengals musste Tagovailoa im Spiel gegen Buffalo nach einem Zusammenprall in die Kabine geführt werden. Er war offensichtlich benommen. Trotzdem kehrte er später aufs Feld zurück. (Foto: David Rosenblum/Icon Sportswire/Imago)

Die Geschichte von schlimmen Kopfverletzungen infolge von Zusammenstößen beim Football ist eine lange, tragische - aber eine, von der man glaubte, sie könnte ein halbwegs gutes Ende gefunden haben. Die NFL hat sich lange geweigert, den Zusammenhang überhaupt anzuerkennen, sie hat Kenntnis geleugnet und damit Verantwortung verweigert. 2013 hatte sich die NFL mit einer Zahlung von nahezu einer Milliarde Dollar an ehemalige Profis vom Vorwurf freigekauft, von Gefahren heftiger Zusammenstöße gewusst, diese in Kauf genommen und die Spieler nicht informiert zu haben.

Allerdings hat die Liga seitdem auch in verbesserte Ausrüstung und medizinische Ausbildung von Nachwuchstrainern investiert, sie hat durch rund 50 Regeländerungen die Sicherheit erhöht - zum Beispiel: Im Mundschutz zahlreicher NFL-Akteure befinden sich seit 2021 Sensoren, die aufzeichnen, was mit dem Kopf eines Menschen passiert, wenn er zu Boden gerissen wird oder mit einem anderen Spieler zusammenprallt, eine Art Seismograf; an Helmen sind bereits seit Jahren Sensoren angebracht. Zudem ist es mittlerweile verboten, die meist ungeschützten Quarterbacks mit voller Wucht zu Boden zu reißen, übrigens auch aus Eigennutz: Eine Liga ist weniger interessant und wertvoll, wenn Stars verletzt ausfallen.

Diesmal geht es jedoch weniger um die Regeln auf dem Spielfeld oder Schutzkleidung, sondern um die Zeit zwischen dem ersten und dem zweiten Zusammenstoß. Es gibt klare Regeln dafür, was passieren muss, damit jemand, dessen Gehirn ganz offensichtlich durchgeschüttelt wurde, wieder aufs Spielfeld darf. Die Fragen, die sich nun stellen, lauten: Sind diese Regeln angemessen? Und: Können sie umgangen werden?

Die Spielergewerkschaft hat den Arzt, der nach dem ersten Vorfall eine Rückenverletzung diagnostizierte, entlassen

Zur zweiten Frage zuerst: Bei Tagovailoa wurde nach dem ersten Zusammenprall eine Rückenverletzung diagnostiziert, keine am Kopf. Das hatte zwei Folgen gemäß NFL-Reglement: Tagovailoa durfte gegen die Bills in der zweiten Halbzeit zurück aufs Spielfeld und er musste nicht ins "Concussion Protocol", bei dem Leute, die eine Gehirnerschütterung erlitten haben, ein Mehrstufen-Programm durchlaufen müssen, ehe sie überhaupt wieder trainieren dürfen. Ein Einsatz von Tagovailoa gegen Cincinnati wäre demzufolge ausgeschlossen gewesen. Die Spieler-Gewerkschaft NFLPA hat den Arzt, der die Diagnose ausstellte, mittlerweile entlassen.

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Das klingt ein wenig nach Bauernopfer, weil so die Hände anderer reingewaschen werden. Von Miami-Trainer Mike McDaniel etwa, der Tagovailoa hatte spielen lassen und nun sagen kann, dass er sich an Regeln und den Rat der Ärzte gehalten habe und seinem Star nur den Wunsch erfüllt habe, weiterspielen zu dürfen. Solche Geschichten lieben sie in den USA: wenn jemand verletzt die Kapitulation verweigert und entgegen allen Wahrscheinlichkeiten obsiegt. Gerade verfilmt Hollywood die Geschichte der Turnerin Kerri Strugg, die bei Olympia 1996 mit verletztem Knöchel zum Sprung antrat und am Ende Gold gewann.

Das ist nämlich auch Teil der Debatte: Beim Sport, gerade bei einem wie Football, gewinnt nicht immer der Talentierteste, sondern oft, wer Blessuren am besten verdrängt. Und sollte einer wie Tagovailoa nicht selbst entscheiden dürfen, ob er weitermachen will? Sei doch sein Körper, sein Leben, seine Freiheit, sagen manche.

Die perfekte Antwort darauf gibt Rich Ohrnberger, der 2011 bei den New England Patriots eine Gehirnerschütterung erlitten hatte. Er schreibt bei Twitter: "Ich bete für Tua, und ich danke den Patriots (dafür), wie sie mich damals behandelt haben. Sie haben mich vor mir selbst gerettet und mich die komplette Saison auf die Verletztenliste gesetzt. Ich wäre sofort wieder aufgelaufen, wenn sie mich gelassen hätten - doch das taten sie nicht."

Angestellte dürfen von Vorgesetzten erwarten, dass die sie bei Krankheit nach Hause schicken. Die Dolphins haben das zwei Mal nicht getan

Und damit zur Frage, ob das Reglement angemessen sind. Regeln legen ja oft nur das Mindestmaß fest - also das, was man keinesfalls tun darf, ohne bestraft zu werden. Es ist aber erlaubt, mehr zu tun, und deshalb ist die Frage, ob sich die Dolphins einfach so aufs Reglement berufen dürfen beim Umgang mit ihrem Spielmacher - oder ob man von einem Arbeitgeber erwarten kann, was Angestellte von Vorgesetzten erwarten dürfen: dass die einen bei Krankheit nach Hause schicken und sagen, dass sie das heute schon ohne einen schaffen werden. Die Dolphins haben das zwei Mal nicht getan.

Es sieht jedoch ganz so aus, als sei Mehr-als-nur-Regeln-Befolgen in der Milliarden-Dollar-Maschine NFL nicht möglich. Deshalb verhandeln Liga und Spielergewerkschaft bereits über Änderungen. Eines nämlich muss man der NFL zugutehalten: Sie handelt bei Problemen extrem schnell, schneller als jede andere Sportvereinigung weltweit. Womöglich gibt es schon am nächsten Spieltag ein verändertes "Concussion Protocol", und erste Folgen waren bereits ein paar Tage nach der Verletzung von Tagovailoa zu sehen: Am Sonntag durften zwölf Spieler nach Untersuchungen zu Gehirnerschütterungen als Vorsichtsmaßnahme nicht weiterspielen. Durchschnitt an den ersten drei Spieltagen der Saison: drei.

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