Aus von Mark Cavendish bei der Tour de France:Staatstrauer für die Kanonenkugel

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Schmerzverzerrt: Mark Cavendish nach seinem Sturz. (Foto: Thomas Samson/AFP)

Fast zwei Jahrzehnte lang zählte der Brite Mark Cavendish zu den besten Sprintern im Peloton: erst als Großmaul, zuletzt als Liebling - aber immer schnell. Nun endet seine Jagd nach dem alleinigen Tour-Etappenrekord mit einem Schlüsselbeinbruch.

Von Johannes Aumüller, Clermont-Ferrand

Als das Aus besiegelt war, hob im Peloton und darüber hinaus eine bemerkenswerte Mitleids- und Sympathiewelle an. Kaum ein Fahrer konnte den Tag beenden, ohne noch am Mikrofon sein Bedauern auszudrücken. Marcel Kittel, der alte Sprint-Rivale aus Deutschland, tat aus der Ferne kund, es breche ihm das Herz. Und Rundfahrt-Boss Christian Prudhomme verhängte gar eine Art Staatstrauer: "Die Tour ist traurig."

Es war ja auch ein sportlich bitterer Moment gewesen, der sich da am Samstag auf dem Weg nach Limoges ereignet hatte. 34 Tageserfolge hatte der Sprint-Haudegen Mark Cavendish im Laufe seiner langen Karriere bei der Tour de France eingefahren. Nun wollte er bei der laufenden Schleife unbedingt noch einen folgen lassen - einer hätte schon gereicht, um in der Kategorie "meiste Etappensiege" zum alleinigen Rekordhalter der Tour-Historie aufzusteigen, vor dem legendären Eddy Merckx. Doch stattdessen musste Cavendish am Samstag nach einem Sturz und einem Schlüsselbeinbruch das Rennen aufgeben - und damit dürfte das Rekord-Unterfangen dahin sein.

Zwar hat ihm der Teamchef seiner Astana-Equipe, der frühere Superdoper Alexander Winokurov, anderntags offeriert, den Briten für 2024 noch mal zu nominieren. Doch eigentlich hatte der inzwischen 38-jährige Cavendish im Frühjahr recht klar zu verstehen gegeben, dass dies nun seine letzte Tour de France werden würde.

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So könnte am Samstag also eine der größten Sprinterkarrieren des Tour-Pelotons zu Ende gegangen sein. Wobei es zu den Besonderheiten dieser Radbiografie zählt, dass zwar schon sehr früh klar war, zu welch sportiven Rekorden der Mann von der Kanalinsel Isle of Man fähig sein könnte - dass aber über viele Jahre kaum vorstellbar war, dass ihm bei einem Misserfolg mal so viel Mitleid und Sympathie entgegenschlagen würde.

Denn Cavendish, Profidebüt 2007, hatte immer schon sehr kräftige und sehr schnelle Beine - aber keinen besonders guten Leumund. In den ersten Karrierejahren, die er zum Teil beim im Dopingsumpf untergegangenen T-Mobile-Team und bei dessen Nachfolgertruppe Highroad verlebte, war er verschrien als eine Mischung aus Rüpel, Rowdy und Großmaul. In der Welt der Sprinter ging und geht es ziemlich ruppig zu, aber Cavendish zählte zu denen, die selbst hier herausstachen. Kaum ein Konkurrent fand sich, der nicht erzählen konnte, dass er im Zielsprint mal weggedrückt worden war vom "Cannonball" (Kanonenkugel), wie Cavendish ob seiner kompakten Statur und seiner Geschwindigkeit hieß - oder wie er vom Briten mit Verbalinjurien bedacht worden war. "Klar werde ich zu einigen Fahrern pampig, denn ich bin ein Arschloch", sagte er mal.

Nach zwei Erkrankungen schien seine Karriere vorbei zu sein, dann erhielt er bei Quickstep noch mal einen Vertrag mit Mini-Salär

An seiner fahrerischen Klasse gab es nie Zweifel, wie er nicht nur mit seinen vielen Tour-Tagessiegen belegte. Da waren ja unter anderem noch 20 Etappensiege bei Giro und Vuelta, ein WM-Titel und ein Triumph beim Frühjahrsklassiker Mailand - Sanremo, und so mancher Erfolg auf der Bahn. Seine Stellung im Peloton änderte sich erst vor einigen Jahren. Da erkrankte Cavendish kurz hintereinander zweimal an Pfeifferschem Drüsenfieber, parallel machte er eine Depressionskrankheit öffentlich; ausgerechnet der "Manxman", der noch in seiner Biografie herumgeprotzt hatte, er ginge natürlich nie zum Psychiater.

Cavendishs Karriere schien da eigentlich schon vorbei zu sein, doch dann erhielt er unverhofft noch eine Gelegenheit. Der ewige Quickstep-Boss Patrick Lefevere gab ihm für ein Mini-Salär von nur 40 000 Euro einen Vertrag fürs Jahr 2021; Cavendish dankte es ihm, indem er sich bei der Tour das Grüne Trikot sicherte und seine persönliche Bestmarke auf jene 34 Tageserfolge hochschraubte, die bis dahin nur der "Kannibale" Merckx erreicht hatte. Zur laufenden Saison schloss sich Cavendish dann Astana an, und immerhin ein Giro-Tagessieg gelang ihm in Italien.

Drei Sprints hatte es bei der Tour bis zu Cavendishs Aus schon gegeben, am besten hatte er am Freitag in Bordeaux abgeschnitten. Da lag er kurz vor dem Ziel sogar recht klar in Führung, ehe ihn Jasper Philipsen (schon drei Tagessiege) noch abfing. Danach gab es wegen Philipsens zum wiederholten Mal wilder Fahrlinie zwar noch einen Protest. Aber die Jury wies ihn ab, und vielleicht ist Cavendish darüber sogar recht froh gewesen. Mit einem Sieg am grünen Tisch einen Rekord einzufahren, das wäre wohl auch kein Karriereschluss in seinem Sinn gewesen.

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