Geschichten von der Tour de France:Berge, Bier und Besenwagen

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Schatten der Sieger: Jonas Vingegaard (Mitte), Tadej Pogacar (links) und Adam Yates auf dem Podium in Paris. (Foto: Marco Bertorello/AFP)

Ärger über die Zuschauer, ein schneller voiture balai, ein noch schnelleres Bier und das kommende Ende einer heiligen Regel: Die Geschichten der 110. Tour de France - abseits des großen Duells zwischen Vingegaard und Pogacar.

Von Johannes Aumüller

In Dänemark sind sie natürlich völlig aus dem Häuschen, nach dem Abschluss dieser 110. Tour de France und dem Sieg von Jonas Vingegaard. Die 18 Kilometer lange Belt-Brücke leuchtete in der Nacht in den Nationalfarben, Kronprinz Frederik rief beim Tour-Sieger an - und Vingegaard konnte sich darauf einstellen, dass ihn in der Heimat wie schon nach seinem Vorjahrestriumph mehrere Zehntausend Menschen empfangen werden.

Die Tour war über drei Wochen geprägt von der Auseinandersetzung zwischen Vingegaard und seinem großen Herausforderer Tadej Pogacar - und der großen Frage, ob das alles mit rechten Dingen zugehen kann, wenn die beiden so viel schneller sind als die Profis der Hochdopingzeit. Die Fortsetzung dürfte folgen: Die Feierlichkeiten waren noch nicht vorbei und Vingegaards ersehnte Belohnung (ein Dürüm-Döner) noch nicht vertilgt, da kam vom Dänen bereits der Hinweis, 2024 selbstverständlich Tour-Sieg Nummer drei anzupeilen. Dabei tat sich auch abseits des großen Duells Erstaunliches.

Bora-Sprinter Jordi Meeus (rechts) gewinnt die letzte Etappe in Paris. (Foto: Nico Vereecken/Imago)

Ein Tag in Gelb und ein Coup in Paris

Auf einem Schiff in Paris haben sich am Sonntagabend die Mitglieder des Teams Bora-Hansgrohe zum großen Abschied von der Tour getroffen - und der fiel aus aktuellem Anlass noch etwas feierlicher aus als vorher gedacht. Denn ihrem belgischen Sprinter Jordi Meeus, 25, war kurz vorher auf der Champs-Élysées ein unerwarteter Erfolg gelungen. Im Foto-Finish gewann er gegen den großen Favoriten Jasper Philipsen diese Etappe, die unter den schnellen Männern des Feldes mit solch besonderer Bedeutung aufgeladen ist. "Ein großartiges Gefühl" sei das, sagte Meeus, bis dahin nur in Rennen der zweiten Kategorie siegreich - und für sein Team ein großer Erfolg am Ende einer Jubiläumsrundfahrt.

Bereits zum zehnten Mal nacheinander nahm Bora an der Tour teil. Zwar sind inzwischen verschiedene deutsche Firmen (Lidl, Alpecin) als Namenssponsor im Feld zu finden, und das Bora-Team hat seinen Sitz seit ein paar Jahren in Österreich, aber es startet nach wie vor als einziges Team mit deutscher Lizenz. Die zehnte Tour wurde jedenfalls eine der erfolgreichsten. Kapitän Jai Hindley gewann die erste schwere Etappe in den Pyrenäen und fuhr einen Tag im Gelben Trikot - am Ende wurde es wegen eines Sturzes in den Alpen Gesamtrang sieben.

Das überschaubare deutsche Fahreraufgebot - sieben am Start, fünf im Ziel - wiederum blieb bereits die zweite Tour nacheinander ohne Etappensieg. So etwas gab es in diesem Jahrtausend erst einmal (2004/2005). Allerdings verpassten Sprinter Phil Bauhaus und Ausreißer Georg Zimmermann einen Tageserfolg nur denkbar knapp.

Irgendwo unter all den Fans steckt der österreichische Profi Felix Gall. (Foto: Marco Bertorello/AFP)

Ärger über die Nähe

Benoit Cosnefroy hat die übliche Berg-Party der Zuschauer auf sehr besondere Weise genossen. Der Franzose aus der Ag2r-Equipe ist bei der Auffahrt auf den Col de Joux Plane einfach vom Rad gestiegen, als er einen Fanklub erblickte, hat mit ihnen eine Runde getanzt und ein Bierchen getrunken - und ist mit einem Lächeln auf den Lippen weitergefahren, wie er anderntags berichtete.

Die Fanmassen an den Bergen, sie sind ein sehr spezielles Thema bei der Tour. Für die Organisatoren gehört es zu den heiligen Grundsätzen, dass die Zuschauer nahe an die Sportler herankommen sollen. Zwar gab es in der Vergangenheit schon zahlreiche Vorfälle, in denen Fans das Rennen beeinflussten: Der Brite Christopher Froome musste sich etwa joggend den Mont Ventoux hinaufbewegen, weil die Straße verstopft war. Aber in der Tendenz scheint es immer schlimmer zu werden. In einem rennentscheidenden Moment blockierten diesmal zwei Motorräder, die wegen der Zuschauer nicht wegkamen, Pogacars Angriff - ein anders Mal steckte auch Vingegaard fest.

Fast alle Mannschaften sandten flehentliche Appelle an die Fans, nur teilweise wurden diese gehört. Nun ist in der Diskussion, bei den schweren Anstiegen mehr Kilometer mit Gittern abzusperren. Das ginge zwar in Teilen auf Kosten der Nähe - würde aber die sportliche Integrität des Wettbewerbs erhöhen. Keine Lösung dürfte es jedenfalls sein, dass alle Fahrer dem Beispiel von Benoit Cosnefroy folgen.

Peter Sagan kümmert sich um Autogrammwünsche. (Foto: Benoit Tissier/Reuters)

Zbohom Sagan, Adieu Pinot

Direkt an der Ziellinie haben sich zwei Fans postiert, mitsamt slowakischen Fahnen und einem Schild, auf das sie den Namen ihres großen Helden gepinselt haben. Und als der endlich ins Ziel kommt, da rufen sie diesen Namen selbstverständlich so laut, dass er sie gar nicht überhören kann und noch einmal herüberwinkt.

Peter Sagan hat im vergangenen Jahrzehnt die Frankreich-Rundfahrt und den Radsport geprägt wie kaum ein anderer abseits der Klassementspezialisten. Zu seiner Bilanz zählen unter anderem sieben Grüne Trikots und zwölf Etappensiege bei der Tour, drei WM-Titel und diverse Klassikererfolge; als Rocker des Pelotons galt er ob seines Auftretens dabei. Nun gab er mit 33 Jahren eine Art Abschiedstournee, um allen "Zbohom" (Slowakisch für Auf Wiedersehen) zu sagen. Er sei froh, dass es nun vorbei sei, gab Sagan zu verstehen.

Sagan ist nicht der einzige prominente Radsportler, der bei der Tour seinen Abschied zelebrierte. Der Sprinter Mark Cavendish, 38, wollte unbedingt noch den 35. Etappensieg einfahren und damit in dieser Wertung zum alleinigen Rekordhalter vor Eddy Merckx aufsteigen. Doch dann musste er nach einem Sturz früh aussteigen. Und auch der Franzose Thibaut Pinot, 33, trat ein letztes Mal an.

In der Gastgebernation haben sie ihn im vergangenen Jahrzehnt sehr ins Herz geschlossen, obwohl er - oder vielleicht weil er - es nie schaffte, die große Hoffnung zu erfüllen und Frankreich den ersten Gesamtsieg seit 1985 zu bescheren. Am Samstag versuchte er noch in den Vogesen, ganz in der Nähe seines Heimatortes, sich mit einem Etappensieg zu verabschieden. Ein paar Kilometer lang lag er an der Spitze, dann rauschten von hinten mal wieder Pogacar und Vingegaard heran.

Tour-Sieger Jonas Vingegaard (re.) und sein Helfer Wout Van Aert. (Foto: Vincent Kalut/Imago)

Der Besenwagen kommt schnell

Plötzlich brandet noch mal gewaltiger Jubel auf im Zielbereich von Morzine, es ertönt lautes Klatschen, manche Zuschauer trommeln gegen die Bande. Stéphane Bezault kommt ins Ziel und verschränkt danach die Arme ineinander wie bei einem Andreaskreuz. Und sein Landsmann Éric Grandjean neben ihm winkt den Fans am Straßenrand noch mal zu.

Nein, man übersieht nichts, wenn man in den offiziellen Starterlisten der Tour Bezault und Grandjean nicht findet. Dieses Duo steuert den Besenwagen, den voiture balai, wie die Franzosen sagen, der immer hinter dem letzten Fahrer des Feldes fährt. Erst wenn der Besenwagen im Ziel ist, ist die Etappe offiziell beendet, und nicht nur in Morzine kommt er vor dem Ablauf der Karenzzeit ins Ziel - sondern in allen anderen auch. Zwar stiegen bei dieser wohl schwersten Tour der Neuzeit 26 Fahrer aus, viele verletzt, manche entkräftet - und Vingegaards Helfer Wout Van Aert, weil sein Kind auf die Welt kam. Aber anders als in fast allen anderen Jahren flog keiner raus, weil er im Ziel vergeblich gegen die Karenzzeit ankämpfte.

Die Tour bei der Ankunft auf den Champs-Élysées. (Foto: Daniel Cole/AP)

Die Tour ist stark, das IOC ist stärker

Seit 1903 existiert der Mythos Tour de France, 110 Austragungen hat er seitdem erlebt, und in dieser Zeit haben sich neben der Nähe zu den Fans noch ein paar andere heilige Grundsätze entwickelt. Einer von ihnen lautet: Die Tour endet in Paris - auch wenn der genaue Ort sich immer wieder verändert hat. In den ersten beiden Jahren war es der Vorort Ville d'Avray, danach über viele Jahrzehnte der Prinzenpark, für eine kurze Zeit die Radrennbahn La Cipale - und seit 1975 dreht das Peloton seine Abschlussrunden über die Champs-Élysées.

2024 allerdings ist Paris Gastgeber der Olympischen Sommerspiele, die nur wenige Tage nach dem Finale der Tour beginnen - deshalb muss die Rundfahrt nun dem Internationalen Olympischen Komitee weichen. Statt in Paris endet die Schleife erstmals in Nizza, und das dann nicht mit einer Sprintetappe, sondern mit einem Einzelzeitfahren. Eine solche Renndramaturgie wiederum hat es früher schon gegeben - zuletzt im Jahr 1989, als der Amerikaner Greg LeMond dem Gelb-Träger Laurent Fignon aus Frankreich noch so viel Zeit abnahm, dass LeMond in der Gesamtwertung am Ende acht Sekunden vorne lag. Das war der knappste Abstand zwischen dem Ersten und Zweiten der Tour-Geschichte. Wenn das mal kein Omen ist für Vingegaard und Pogacar.

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