Der Ernst der Lage lässt sich schon daran erkennen, dass die Debatte vom Fußball in die Politik geschwappt ist. Sachsen-Anhalts Ministerpräsident Reiner Haseloff hat gerade dem Tagesspiegel den wunderbaren Satz gesagt: "Schauen Sie sich meine Frisur an, ich habe erst heute wieder die Schere selbst angelegt."
Wer in Zeiten der Pandemie die Haare schön hat, den begleitet ein Verdacht: dass er sie unmöglich selbst geschnitten haben kann. Dass er die Frisur womöglich von einem professionellen Dienstleister hat herrichten lassen, der in Zeiten des Winter-Lockdowns nicht arbeiten darf, weil im Rahmen einer gesamtgesellschaftlichen Anstrengung anstelle der Haare die Infektionszahlen gestutzt werden sollen.
Mag es bei Haseloff noch glaubwürdig sein, dass er selbst Hand angelegt hat, so hatte kürzlich die Innung der Friseure Alarm geschlagen und sich gewundert, wie es Fußballprofis gelingt, top gestylt zu sein, obwohl sie seit Wochen keinen Friseursalon oder Barbier-Shop von innen sehen konnten. Manche Fußballer sehen derzeit tatsächlich ertappt aus wie ein Fünfjähriger, der mit Nussnougatcreme am Kinn versichert, er sei nicht am Nutella-Glas gewesen.
Mit der Zahl der Verbote steigt auch die Kraft der Versuchungen. In der privilegierten Blase, in der sich die Fußballer bewegen, sind Verstöße gegen die Auflagen des Infektionsschutzes allerdings besonders ärgerlich: weil die Kicker als Dienstleister in der Unterhaltungsindustrie im Grunde keine systemrelevante Funktion haben. Und sie sich glücklich schätzen dürfen, dass sie dank virenfreier Fernsehübertragung, anders etwa als die Streicher im Symphonieorchester, die man zusätzlich gerne gut hören möchte, ihren Beruf weiter ausüben können.
Ein Urteil über das neue Tattoo des Bayern-Profis Tolisso? Fällt natürlich fluffig leicht
In diesen Zeiten, in denen die Gesellschaft harte Debatten führt, ob der Wert, Ansteckungen in Kitas zu unterbinden, das Übel der psychischen Langzeitfolgen isolierter Kinder aufwiegt, und dabei zu keinem eindeutigen Ergebnis kommt, fällt es fluffig leicht, ein Urteil über den Fußballprofi Corentin Tolisso zu fällen. Der 26-jährige Franzose in Diensten des FC Bayern hat sich nicht die Haare waschen und legen, sondern gleich ein neues Tattoo am Unterarm stechen lassen. Man weiß das, weil der Tätowierer ein Video der Hautpinselei veröffentlichte, auf dem astrein zu sehen ist, wie keiner der Protagonisten einen Mund-Nase-Schutz trägt. Tolisso ist nun zwar nicht amtlich positiv auf das Coronavirus getestet wie jüngst seine Kollegen Javier Martínez und Leon Goretzka, dafür aber auf wenig schlaues Verhalten.
Wobei dieser Videobeweis, der ausnahmsweise nicht im Kölner Keller geführt wurde, nicht nötig gewesen wäre. Im Gegensatz zu Toni Kroos von Real Madrid, der glaubwürdig versicherte, seine Matte werde derzeit notgedrungen von Gattin Jessica betoniert ("Ich habe keine negativen Kommentare zu meiner Frisur gehört"), hat Tolissos Freundin sicher keine heißen Nadeln daheim im Etui.
Dass die Lausbubenquote bei Fußballern zweifelsfrei höher ist als bei den Münchner Symphonikern, taugt nicht zur Entlastung. Auch wenn die Versuchungen, denen spätpubertierende Ballartisten zum Opfer werden können, mannigfaltig sind. Das weiß man, seit kürzlich der Gladbacher Breel Embolo von einer illegalen Corona-Party floh. Er entkam zu Fuß, indem er wie einst Cary Grant im Auftrag Hitchcocks über die Dächer floh. Nur nicht in Nizza, sondern in Essen.
Tolissos potenziell ansteckende Malstunde wird vom FC Bayern mit einer Geldstrafe geahndet. Vorstand Oliver Kahn wies zu Recht auf die "große Vorbildfunktion" der Fußballer "nach außen" hin. Die bestand nämlich schon, als Kahn noch kickte und würgte, äh, wirkte.