Tennistalent Jule Niemeier:Petkovic sagt's ihr achtmal am Tag

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Ihr größter Erfolg bislang: Jule Niemeier bejubelt ihren Zweitrundensieg in Wimbledon gegen die Weltranglisten-Dritte Anett Kontaveit aus Estland. (Foto: Toby Melville/Reuters)

Jule Niemeier kann eine Top-20-Spielerin werden, sagt ihre bekannte Mentorin und Doppelpartnerin. In Wimbledon zeigt die 22-jährige Dortmunderin auf großer Bühne, wie begabt sie ist.

Von Gerald Kleffmann, Wimbledon

Für Jule Niemeier war es am Donnerstagmittag bedauerlich, dass sie ihr Doppel mit Andrea Petkovic nicht auf dem Centre Court bestreiten durfte. Sie hätte dann sagen können: Professor Dame Helen Stokes-Lampard und Mr Aaron Hercules Hutchison haben mir auch zugeschaut. Diese ehrenwerten Menschen standen schließlich am vierten Spieltag des Rasentennisturniers von Wimbledon auf der Liste jener Gäste, die in der Royal Box Platz nahmen. Niemeier und Petkovic mussten mit Court 5 Vorlieb nehmen, einem der Außenplätze, der zwischen dem Vierer und dem Sechser eingeklemmt ist, mit kaum Raum für Zuschauer.

Trotzdem, natürlich, betrat Niemeier mit einem Lächeln den Platz. "Ich versuche das alles hier aufzusaugen, ich weiß immer noch nicht ganz, wo ich lang laufen muss", hatte sie zuvor gesagt. Den Weg zu Court No. 1, dem zweitgrößten Stadion, kennt sie übrigens bereits.

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Der Deutschen Jule Niemeier gelingt die große Überraschung: Die 22-jährige Dortmunderin besiegt Anett Kontaveit 6:4, 6:0 - auch Angelique Kerber, Tatjana Maria und Oscar Otte erreichen die dritte Runde.

Von Gerald Kleffmann

Am Mittwoch war es ja die 22 Jahre alte Deutsche, die einen spektakulären Sieg errang, mit 6:4, 6:0 hatte sie in der zweiten Runde die Nummer zwei der Setzliste, die Estin Anett Kontaveit, hinausbefördert. Jetzt wissen sie auch im All England Club, dass aus der Stadt Dortmund nicht nur (teilweise) fähige Fußballer kommen, die Niemeier selbstredend gut findet. "Anett kam leider nicht rein ins Spiel, aber Jule hat das stark gemacht", sagte Kontaveits Trainer Torben Beltz voller Respekt der SZ. Er ist einer vom Fach. Angelique Kerber führte er einst zu zwei Grand-Slam-Titeln, zuletzt hatte er die junge Britin Emma Raducanu betreut. Auch er war beeindruckt vom Niveau Niemeiers, die als 97. der Weltrangliste angetreten war, aber äußerst dominant agiert hatte mit ihrem harten Aufschlag, taktisch gut eingesetzten Unterschnitt-Schlägen und einer Vorhand, die einer Männervorhand gleicht. "Spielerisch ist sie für mich eine absolute Top-20-Spielerin", sagte Petkovic, "das weiß sie, das sage ich ihr jeden Tag sieben bis achtmal."

Petkovic fungiert seit eineinhalb Jahren als Mentorin im Hintergrund. Auch deshalb spielen sie oft zusammen Doppel - und zum Auftakt diesmal auch erfolgreich: Gegen Miyu Kato (Japan) und Aldila Sutjiadi (Indonesien) siegten sie 7:6 (3), 5:7, 7:6 (12). Danach fielen sie sich in die Arme.

Ihr Trainer Christopher Kas sagt: "Sie hat eine hohe Spielintelligenz. Sie liest die Gegnerin."

In der Branche selbst ist Niemeier schon länger auf dem Schirm, "sie gehört zu denen, auf die wir bauen", sagte Barbara Rittner; als andere Begabungen des DTB gelten Nastasja Schunk, 18, und Eva Lys, 20. Niemeier erhielt in den vergangenen Wochen auch Wildcards für deutsche Turniere wie in Stuttgart und Berlin, es werden ihr Brücken gebaut, über die sie nun entschlossen geht. "Sie hat die Einstellung, sich komplett auf diesen Tennisweg zu fokussieren", lobte die Bundestrainerin. "Sie ist wohl nur eine, die gerne Zeit braucht, sich Schritt für Schritt zu entwickeln. Aber sie kann auch mal extrem durchstarten." Das tut sie gerade. In Paris stand sie erstmals im Hauptfeld eines Grand Slams. Danach folgte der erste WTA-Titel bei einem kleineren Turnier in Kroatien. Nun: Hat sie es wieder über die Qualifikation ins Wimbledon-Draw geschafft, gab es ihren ersten Grand-Slam-Matchsieg gegen die Chinesin Xiyu Wang, dann den wuchtigen Erfolg gegen Kontaveit.

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Von Gerald Kleffmann

Was Rittner noch gefällt: das Umfeld Niemeiers. Da ist keiner, der ihr einredet, sie müsse - wie bei Raducanu geschehen - mit Schmuck im Wert von 35 000 Pfund auf den Platz gehen. "Ich habe ein sehr gutes Verhältnis zu meiner Familie", sagte Niemeier. In Wimbledon sind Mutter Annette, Vater Michael und Bruder Jona (der zweite Bruder fehlt) zur Unterstützung dabei. Über den früheren Physio von Julia Görges, Florian Zitzelsberger, der in Regensburg beheimatet ist, kam sie in die bayerische Stadt und dockte an die Akademie von Michael Geserer an. Der betreut aktuell die Kroatin Petra Martic und hatte Christopher Kas als Coach vermittelt.

In diese Gesellschaft ist Niemeier eingebettet und erhält nun Zeit für ihre Entwicklung, die sie sich gar nicht lassen will. Nach dem Coup gegen Kontaveit, ihrem erst zweiten Matchsieg bei einem Grand Slam, hatte sie auf dem Platz kurz heftig gejubelt. Danach aber sprach sie so aufgeräumt, als sei sie seit zehn Jahren Profi.

Die Neue und die Erfahrene: Jule Niemeier (rechts) und Andrea Petkovic bei einer Pause während des gemeinsamen Doppels am Donnerstag. (Foto: Frank Molter/dpa)

Es ist nicht nur ihr Können, sondern auch ihre Persönlichkeit, die Anlass zur Hoffnung gibt, dass die Ära der Kerbers und Petkovics nicht im Nichts versickert. "Sie hat eine ungemeine Neugier und einen Wissendurst", sagte ihr Trainer Kas der SZ, "sie will im Training immer noch was ausprobieren." Es gehe bei Niemeier jetzt darum, "dass sie bei den vielen Möglichkeiten, die sie hat, den richtigen Schlag findet. Und dass sie daran glaubt, wie gut wirklich diese Fähigkeiten sind".

Realitäten zu erkennen, dürfte Niemeier kein Problem bereiten, sie ist wohltuend unaufgeregt und hat auch einen klaren Blick darauf, warum der Übertritt vom Jugend- zum Frauentennis - unabhängig ihrer langen Pausen aufgrund von Verletzungen - doch schwieriger war als gedacht. "Man muss sich bewusst machen, dass man eigentlich bei Null startet", sagte sie. Für manche in der Jugend oft prämierten Talente sei es "schwierig, das zu akzeptieren". Kas, der vor drei Monaten zu Niemeier stieß, hebt auch hervor: "Sie hat Sachen, die du nur schwer trainieren kannst. Sie hat ein unglaublich gutes Ballgefühl, eine sehr hohe Spielintelligenz. Sie liest die Gegnerin. Das sind softe Faktoren, die hast du oder hast du nicht."

An diesem Freitag kämpft Niemeier um den Einzug ins Achtelfinale. Lesia Zurenko aus der Ukraine ist ihre Gegnerin, 101. der Weltrangliste, was für Niemeier ohnehin irrelevant ist: "Ich denke, dass ich eigentlich fast jede Gegnerin schlagen kann, die hier ist", sagte sie, aber nicht arrogant, sondern so, dass es Kas gefallen hätte. Kerber, die auf die Belgierin Elise Mertens trifft, befand: "Sie weiß schon genau, was sie kann, was sie will." Tatjana Maria ist die dritte Deutsche, die die dritte Runde erreichte und nun gegen die Griechin Maria Sakkari spielt. Pech hat Niemeier nur, dass diesmal keine Weltranglistenpunkte vergeben werden, eine Folge des Streits um den Ausschluss russischer und belarussischer Profis. Aber sie fände es "ein bisschen respektlos", würde sie sich darüber beklagen, sagte sie. "Ich bin noch recht neu dabei." Dafür macht sie ihren Job ziemlich gut.

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