Tennisprofi Aryna Sabalenka:Die Schattenkönigin

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Die neue Nummer eins der Tennis-Welt: Aryna Sabalenka aus Belarus. (Foto: Manu Fernandez/AP)

Aryna Sabalenka hat sich mit unbändigem Willen zur Nummer eins der Welt im Tennis hochgearbeitet. Das Leben jenseits des Platzes ist für die Belarussin derzeit deutlich schwieriger.

Von Jürgen Schmieder, New York

In einem Punkt sind die US Open wie Disneyworld: Es gibt an strategisch wertvollen Punkten Stationen, die Leuten das Warten auf Attraktionen erträglicher machen. An den meisten gibt man Geld aus oder schenkt Sponsoren Zeit - nur die Spektakelwand vor dem Louis Armstrong Stadium ist gratis. Man kann dort Fotos machen mit lebensgroßen Figuren derer, die diesen Sport prägen: Novak Djokovic, Iga Swiatek, Carlos Alcaraz, Coco Gauff. Rafael Nadal und Naomi Osaka sind auch hier aufgestellt, obwohl sie gar nicht dabei sind; macht nichts, die Leute schießen dennoch Fotos.

Wer fehlt an dieser Wand: Aryna Sabalenka. Das ist dann doch erstaunlich. Denn sie wird - egal, was bei diesen US Open noch so passieren wird - am kommenden Montag die Nummer eins im Frauentennis sein.

Das steht seit Sonntagabend fest. Iga Swiatek, bisher Ranglistenbeste, hatte sich gegen Jelena Ostapenko zu viele Fehler geleistet; die Gegnerin hatte beim taktischen Alles-oder-nichts-Lotto vom zweiten Satz an fast ausschließlich Alles-Lose gezogen. "Es ist traurig, weil es etwas ist, das ich als Kind immer haben wollte. Auf der anderen Seite waren die letzten Monate sehr intensiv und auch anstrengend", sagte Swiatek, die 75 Wochen an der Spitze verbracht hat: "Es hat mich ausgelaugt; es ist, wie es Roger, Novak und Rafa beschreiben: Konzentriere dich auf Turniere und nicht aufs Ranking. Das werde ich tun, aber erst einmal genieße ich ein bisschen Ruhe."

Sabalenka ist der Gegenpol zur bisherigen Weltranglistenersten, der introvertierten Polin Iga Swiatek

Es ist, wie die Amerikaner sagen, "a new sheriff in town", und beim Tennis trifft das tatsächlich zu: Die Branchenbesten bestimmen über die Kultur; und wenn Federer und Nadal respektvoll miteinander umgingen, obwohl sie Rivalen waren, wenn Djokovic in New York Autogramme schreibt mit der Geduld eines tibetischen Mönchs - dann färbt das auf die anderen ab.

Swiatek hatte sich zuletzt nachdenklich über ihren Beruf geäußert, über Ansetzungen und Strapazen, mentale Belastungen, Hasskommentare in sozialen Medien. Das kam gut an bei den Kolleginnen, wie zu hören ist - und auch, dass sie sich wehrte gegen Darstellungen wie jenen Moment in einer Netflix-Doku ("Breaking Point"), in der ihre Psychologin Daria Abramowicz vermeintlich über ihren Haarschnitt bestimmt. Aus dem Zusammenhang gerissen sei das: "Wir haben mit Netflix geredet, hatten aber keinen Einfluss."

Keine große Sache eigentlich, doch meldete sich einen Tag danach, eine Woche vor Beginn der US Open, Sabalenka zu Wort - die ebenfalls einiges von sich preisgibt in dieser Serie: "Man guckt die Episoden vor dem Erscheinen mit Netflix - und man sagt: Ich mag dies und das nicht, könnt ihr das und das ändern? Ich weiß nicht, warum sie das nicht getan hat, als sie ihre Folge überprüft hat."

Bloß nicht den Antrieb verlieren: Selbst bei klaren Spielständen bemüht sich Aryna Sabalenka, die Konzentration hoch zu halten. (Foto: Robert Deutsch/Reuters)

Auch das: keine große Sache, aber doch ein Hinweis darauf, dass Sabalenka eine andere Hüterin ihres Sports sein wird. Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass Sabalenka der Gegenpol zur introvertierten Swiatek ist. Das dürfte diesem Sport, der seine Dramatik erheblich aus Duellen gegensätzlicher Persönlichkeiten zieht, helfen bei der Vermarktung: die Schüchterne mit Psychologin und die Hemdsärmlige, die nicht mehr mit Mentaltrainer arbeitet, weil sie ihre Probleme lieber selbst lösen will.

Sabalenka wirkt oft, als wäre sie als Kind in ein Fass mit Energydrinks gefallen - zu beobachten auch bei ihrer ersten Partie im Wissen, bald die Nummer eins der Welt zu sein: Montagabend im Arthur Ashe Stadium gegen Daria Kasatkina aus Russland - das Match barg die Gefahr, gleichzeitig den größten Triumph der Karriere und eine bittere Niederlage zu erfahren. Angelique Kerber hatte das 2016 erlebt, als sie nach der Nachricht über ihren Aufstieg zur Nummer eins das Halbfinale der US Open bestreiten musste. Sie gewann die Partie und zwei Tage später das Turnier.

Und Sabalenka? Das Ergebnis (6:1, 6:3) und die Zahl der Gewinnschläge (31:7) reichen, um zu verstehen: Sabalenka hat ihre Gegnerin 75 Minuten lang über den Platz gehetzt - und mit dem verwandelten Matchball eher erlöst. Sie habe ihren Aufstieg zur Nummer eins am Morgen erfahren, "weil auf meinem Handy so viele Glückwünsche waren", sagte die Belarussin: "Ich dachte mir: Danke, aber ich muss mich um ein paar andere Dinge kümmern heute. Ich will nicht Nummer eins werden durch die Niederlage einer anderen - ich will mir das erkämpfen. Der Fokus liegt auf dem Turnier und nicht auf der Rangliste."

Mit dem Krieg in Europa umzugehen, fällt der Belarussin schwer

Sabalenka, eine Nummer eins, die auf dem Platz spektakulär agiert und auch abseits davon energiegeladen daherkommt und beliebt ist. Dennoch: In Europa führt Russland immer noch einen Angriffskrieg. Die Belarussin Sabalenka hatte mit etwas Verspätung gesagt, dass sie sehr wohl gegen Krieg sei; indes wartete sie bei den French Open am Netz scheinheilig auf den Handschlag einer ukrainischen Gegnerin, obgleich sie wusste, dass das nicht passieren würde. Dann sagte sie Pressekonferenzen nach kritischen Fragen eines ukrainischen Reporters ab mit dem Hinweis auf ihre mentale Gesundheit - das ist erlaubt, passt aber nicht zum Image der furchtlosen Problemlöserin.

In der Netflix-Serie, seit Juni verfügbar, sieht man Sabalenka, wie sie schluchzend die Hassnachrichten auf Instagram vorliest - unter anderem wünsche man ihr und ihrer Familie den Krebstod. Sie spricht darüber, dass sie deswegen die Karriere beenden wolle; Trainer Anton Dubrow sagt, dass Leute, die sich öffentlich zum Thema Krieg äußerten, "im Knast sterben". Vielleicht gibt es auch deshalb keinen Aufsteller von Sabalenka: aus Angst, dass ihn jemand besudeln oder gar zerstören könnte.

Es ist ein heikles Thema, das sie bei der Spaßveranstaltung US Open umschiffen wollen, indem sie ausschließlich über Tennis reden - und seit Sonntag darüber, dass Sabalenka die Nummer eins in diesem Sport sein wird. Beim anderen Thema ist es wie mit der Figur an der Spektakelwand: Es fällt auf - gerade, weil es verborgen bleiben soll.

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