Oscar Otte kam nicht, und so sprach erst mal Matteo Berrettini, der nun das Finale an diesem Sonntag beim ATP-Turnier in Stuttgart bestreiten darf und sich erleichtert dazu äußerte, dass sein kleiner Finger nach einer Operation wieder voll funktioniere. Und Toni Nadal, der berühmte Onkel des 22-maligen Grand-Slam-Gewinners Rafael Nadal, der den Mallorquiner viele Jahre trainiert hatte, schaute auch vorbei - um einen Sponsor zu bewerben, aber auch, um bei der Gelegenheit mitzuteilen, dass sein Neffe höchstwahrscheinlich in Wimbledon antreten könne. Nach seinem 14. French-Open-Titel hatte der sich ja an seinem chronisch maladen Fuß behandeln lassen. Ab diesem Montag plane Nadal, im Mallorca Country Club, wo auch ein ATP-Turnier am 19. Juni beginnt, zu trainieren. "Ich bin sicher, wenn er eine kleine Möglichkeit hat, wird er in Wimbledon spielen", sagte Toni Nadal.
Dann kam Otte. In seiner unnachahmlich offenen Art bestätigte er gleich mal: Er hatte "ein bisschen Hals" gehabt. Diese Formulierung erinnerte an Horst Schlämmer, der ja immer Rücken hatte.
Hape Kerkeling, der sich damals diese grandiose Kunstfigur ausgedacht hatte, war allerdings bei weitem nicht so ein guter Tennisspieler wie dieser Oscar Otte, 28, aus Köln, den sich die deutsche Tennisszene nun gut merken muss. Zwar schied er an diesem Samstag durch die knappe 6:7 (7), 6:7 (4)-Niederlage gegen Berrettini aus. Er kam aber auch zu dem Fazit: "Im Großen und Ganzen war das schon eine echt gute Woche gewesen."
Im sogenannten Live-Ranking erreichte Otte ja tatsächlich erstmals, durch das erneute Erreichen eines Halbfinales bei einem ATP-Turnier der 250er Kategorie binnen weniger Wochen, die Top 50. Durch den Finaleinzug von Andy Murray, 35, der den Australier Nick Kyrgios 7:6 (5), 6:2 besiegte, rutscht er wieder knapp heraus bis zum Erscheinen der neuen Weltrangliste am Montag. Aber "emotional" sei der Moment schon für ihn, erstmals so weit oben in der Weltrangliste angelangt zu sein. Mit Leuchten in den Augen erzählte Otte: Sein Vater hätte ihm gerade erst ein Video geschickt, "wo ich ein kleiner Junge war. Ich weiß gar nicht, wo er das ausgegraben hat und warum das überhaupt aufgenommen wurde von einem Fernsehsender früher. Da habe ich als kleiner Junge gesagt, dass ich irgendwann Top 50 stehen möchte". Ottes Geschichte ist somit die Geschichte eines Traumes, der sich erfüllte.
Nach dem Match brach Otte mit dem Auto nach Halle auf - so ist das Tagesgeschäft im Tennis
Die Enttäuschung, sein erstes ATP-Finale bei diesen Boss Open verpasst zu haben, war ihm dennoch anzuhören, aber er teilte die Ansicht seines erfahrenen Trainers Peter Moraing, der gemeint hatte, Otte könne erhobenen Hauptes Stuttgart verlassen. Er hatte ja immerhin auch den Weltranglisten-16. Denis Shapovalov besiegt und "nur ein Break im gesamten Turnier bekommen", also nur einmal sein eigenes Aufschlagspiel abgegeben. "Mittlerweile ist es schon so bei mir, wenn ich bei ATP-Turnieren spiele, möchte ich weit kommen", sagte Otte. "Ein Halbfinale ist immer schon ganz gut von den Punkten, das setze ich mir schon als Ziel." Nach am Samstag fuhr er mit dem Auto nach Halle, wo das Rasenturnier der 500er Kategorie stattfindet - so ist das Tagesgeschäft im Tennis.
Stuttgart bekommt auch ohne deutsche Beteiligung ein ganz wunderbares Finale, denn in dem 26 Jahre alten Römer Berrettini handelt es sich zum einen um den Wimbledon-Finalisten von 2021. Murray, der alte Grinder, der ewige Kämpfer mit der künstlichen Hüfte, bewies zum anderen ebenfalls, dass er für diese Rasen-Saison gerüstet ist, wobei er am Samstag nur einen Satz lang an sein Limit gehen musste. "Der zweite Satz hat nicht wirklich Spaß gemacht", sagte er, nachdem er heftig umjubelt wie bei allen seinen Auftritten in Stuttgart zuvor sein 70. Finale auf der Tour erreicht hatte. "Es war kein richtiges Match mehr." Das lag einzig an Kyrgios, der im Murray-Ländle doch noch, nach durchaus anständigem Benehmen in den Partien zuvor, den Teufel in ihm auslebte.
Der erste Satz war eng, mit einem der längsten Ballwechsel sicherte sich Murray den 7:5-Gewinn des Tie-Breaks - ab diesem Augenblick war es, als hätte jemand eine Lunte angezündet, die direkt zu Kyrgios führte. Nachdem seine Monologe vor und nach Aufschlägen ohnehin nie enden wollten, überschritt er nun Grenzen. Drosch den Ball weg. Verwarnung. Zerhackte den Schläger. Punkt für Murray. Verbale Abfälligkeit zu jemandem im Publikum. Spiel für Murray. Binnen Minuten war der Widerstand von Kyrgios zerbrochen. Noch ein Vergehen, und die Disqualifikation wäre möglich gewesen. "Er hat das Potential, um einer der besten Spieler zu sein", sagte Murray. Was er nicht sagte, aber in diesem Satz mitschwang: Kyrgios steht sich zu oft selbst im Weg.
Später am Samstagabend veröffentlichte er auf Instagram ein Statement, in dem er seine Auseinandersetzung mit einem Zuschauer rechtfertigte. Er sei rassistisch beleidigt worden, jemand hätte ihm zugerufen: "Du kleines schwarzes Schaf, halt die Klappe und spiele." Und das, so Kyrgios, sei "nicht hinnehmbar. Wenn ich mich dann wehre gegenüber der Menge, kriege ich eine Strafe. Da kommt irgendwas durcheinander." Der Vorfall dürfte sicher noch von der ATP untersucht werden.
Murray freute sich in jedem Fall über seinen tiefen Vorstoß im Turnier. "Verglichen mit vergangenem Jahr bewege ich mich auf Rasen viel besser", sagte er, "einiges macht mir Mut." Das Endspiel gegen Berrettini startet nicht vor 15 Uhr am Sonntag, zuvor findet das Doppel-Endspiel zwischen Tim Pütz/Michael Venus und Hubert Hurkacz/Mate Pavic statt.