Der Mann mit dem imposanten Staubwedel vernachlässigte seine Arbeit. Es war nicht so, dass er seiner Aufgabe auf der Tribüne überhaupt nicht mehr nachkam, die Stühle in der Leipziger Messehalle von den letzten Fusseln zu befreien. Doch er war nicht mehr ganz bei der Sache, immer wieder schaute er auf den Platz, wo Angelique Kerber an ihrem Tennisspiel feilte. Eine deutsche Siegerin eines Grand-Slam-Turniers in Deutschland: Da schaut man schon mal hin.
Das Spiel ihres Lebens - so beschreibt Kerber das Finale bei den Australian Open gegen Serena Williams auch vier Tage später noch. Seit dem Dreisatzsieg gegen die Weltranglisten-Erste habe sie noch kaum geschlafen, berichtet die 28-Jährige in Leipzig, wo am Wochenende das Erstrundenspiel im Fed Cup gegen die Schweiz ansteht. Anzusehen ist ihr der Schlafentzug allerdings nicht.
Kerber wirkt wach und frisch, bestens gebräunt ist sie aus dem australischen Sommer ohnehin heimgekehrt. Die Feierlichkeiten und TV-Auftritte hat sie offenbar gut überstanden. Sie musste viel reden, über sich und ihren unerwarteten Triumph. Kerber hat das genossen. "Im Moment erkennt mich auf der Straße jeder", sagt sie, "ich ziehe aber viel Energie daraus."
Jeder erwartet, dass Kerber einfach weiter siegt
Drei Tage hat sie keinen Tennisschläger in die Hand genommen. Die Zeit endet am Mittwoch, als ihr Hitting-Partner Sebastian Sachs die ersten Bälle zuspielt. Es gehört zu den Besonderheiten des Profi- Tennis, dass den Akteuren nach großen Erfolgen kaum die Zeit bleibt, das Erlebte wirklich zu verarbeiten. Schon steht das nächste Turnier an. Auf einem anderen Kontinent, in einer anderen Stadt.
In Kerbers Fall ist der Wechsel besonders extrem, weil sie jetzt nicht irgendwo aufschlägt, sondern in ihrer Heimat - und dann auch noch in einem Mannschaftswettbewerb. "Ich weiß, dass ich am Samstag im Fokus stehen werde. Aber ich freue mich darauf", sagt sie. Fast jeder erwartet nun von ihr, dass sie einfach weiter siegt.
Angelique Kerber kennt die großen Erfolge, doch auch die Last, eine Nummer eins zu sein. 2018 gelingt ihr die Rückkehr auf die große Bühne - und der lang ersehnte Triumph in Wimbledon. Ihre Karriere in Bildern.
Wie groß die Sehnsucht in Deutschland nach einer großen Tennis-Siegerin war, lässt sich in Leipzig beobachten. Neun Kameras zeichnen jede von Kerbers Bewegungen auf, bei jedem Lächeln klicken die Fotoapparate. Zur Auftakt-Pressekonferenz müssen sogar extra Stühle herbeigeschafft werden, weil die 75 Plätze im Raum nicht ausreichen. Auch beim Fernsehen tut sich einiges. Sat1 verlegt die Live-Übertragung der Fed-Cup-Spiele wieder ins Hauptprogramm. Wie lange die neue Begeisterung fürs Tennis anhält, werden auch die nächsten Tage in Leipzig entscheiden.
Dabei steht nicht einmal fest, ob die neue Führungsfigur eines der beiden Einzel am Samstag bestreiten wird. Das behauptet zumindest Fed-Cup-Chefin Barbara Rittner. Die 42-Jährige verzichtet darauf, Kerber als gesetzt zu bezeichnen. "Ich werde nichts zur Aufstellung sagen", sagt Rittner - und hält sich dann auch daran. Die Fed-Cup-Chefin will noch abwarten.
In den Übungseinheiten will sie beobachten, wie Kerber die Reisestrapazen weggesteckt hat und wie sie mit der neuen Situation umgeht. "Es ist jetzt wichtig, dass jede den bestmöglichen Weg findet, sich wieder aufs Tennis zu fokussieren", sagt Rittner, die fordert: "Wir müssen dieses wahnsinnig tolle Ereignis abhaken." Kerber will deshalb von Donnerstag an nicht mehr öffentlich sprechen.
Es gibt sogar sportliche Gründe, die gegen Kerber sprechen
Für Rittner ist die Aufstellung kniffelig. Sie kann Kerber, die neue Nummer zwei der Weltrangliste, nur schwer rauslassen. Zu welch lebhaften Diskussionen das führen kann, hatte die Fed-Cup-Chefin im vergangenen Jahr schon einmal erlebt. Weil Kerber in der Woche zuvor ein Turnier gewonnen hatte, wurde sie beim Halbfinale in Sotschi gegen Russland zunächst geschont. Nachdem die Partie dann verloren ging, war die Aufregung groß.
Wettschulden sind auch für eine Grand-Slam-Siegerin Ehrenschulden: Angelique Kerber hat wie versprochen ein Bad im trüben, kalten Yarra River in Melbourne genommen.
Jetzt gäbe es aber sogar sportliche Gründe, die gegen eine Nominierung sprechen. Kerber hat weder gegen Belinda Bencic, die in der Weltrangliste aktuell an Position elf geführt wird, noch gegen Timea Bacsinszky, die Nummer 15 des Rankings, bisher ein Match gewonnen. "Das werde ich jetzt aber mit meiner neuen Kraft hinkriegen", gibt Kerber sich zuversichtlich. Neben Andrea Petkovic könnte Rittner auch auf Australian-Open-Achtelfinalistin Annika Beck zurückgreifen. Das Team komplettieren Doppel-Spezialistin Anna-Lena Grönefeld und Ersatz Anna-Lena Friedsam.
Den Auftritt in Leipzig nach dem Coup in Melbourne abzusagen, stand für Kerber nie zur Diskussion. "Ehrlich gesagt, nein", antwortet sie auf die Frage: "Es war von vornherein klar, dass ich hierher komme." Jetzt, da sie in einer neuen Rolle da ist, muss sie damit klarkommen, dass ihr nicht nur Fragen zum Tennis gestellt werden. Wann Bastian Schweinsteiger denn nun Ana Ivanovic heiraten werde, will jemand von Kerber wissen. Die lächelt: "Das behalte ich für mich."
