Schon als Angelique Kerber vor ihrem Halbfinale die größte Tennisarena des Planeten in New York betrat, wusste sie, dass sie am Montag zur neuen Nummer eins der Tenniswelt aufsteigen würde. Serena Williams, bisherige Weltranglistenerste und dominierende Spielerin der vergangenen Jahre, hatte im ersten Spiel des Tages gegen die Tschechin Karolina Pliskova 2:6, 6:7 (5:7) verloren.
Damit stand unabhängig vom Kerbers Resultat gegen die Dänin Carolina Wozniacki fest, dass Kerber nach Steffi Graf als zweite Deutsche den Spitzenplatz in der Weltrangliste übernehmen würde - mit 28 Jahren als älteste Debütantin überhaupt seit Einführung des computerbasierten Rankings im Jahr 1975.
Der Nummer-eins-Status schien sie zu entspannen, Kerber lächelte, als sie den Schläger auspackte, sie lächelte, als sie sich vor dem Match auf dem Platz mit ihrer Freundin Wozniacki und einem Mädchen aus dem Publikum fotografieren ließ. Und sie lächelte, als sie beim Aufwärmen locker die ersten Bälle übers Netz schlug. Es war ein Lächeln, das sie nicht zufrieden machte, sondern noch zusätzlich motivierte und zu Höchstleistung trieb. "Ich will jetzt nur an mein Match denken, danach sehen wir weiter", hatte Kerber im Interview mit ESPN vor der Partie angekündigt.
"Es ist ein großartiger Tag"
Und sie schaffte es tatsächlich, die neue Situation in zusätzliche Energie und Entschlossenheit umzuwandeln. Vom ersten Ballwechsel an spielte sie großes Tennis, sie nahm die Bälle früh an der Linie und scheuchte ihre Gegnerin mit extremem Winkelspiel über den Platz, von links nach rechts, von rechts nach links. Sie lockte sie ans Netz vor, um sie elegant zu passieren. 4:0 führte sie rasch. Es war ein einseitiges Spiel. Es war das Spiel der neuen Nummer eins der Welt. Am Ende siegte Kerber mit 6:4, 6:3 und steht zum ersten Mal bei den US Open im Endspiel, das am Samstag (22 Uhr/Eurosport) ausgespielt wird.
Nachdem die Vorhand von Wozniacki ins Aus geflogen war, riss die gebürtige Bremerin ihre Arme hoch. Völlig überwältigt von ihren Gefühlen war sie allerdings nicht, die Linkshänderin wirkte gefasst, gefestigt, so als habe sie erst ein Teilziel erreicht. Sie hat ja noch etwas vor, sie will in ihrem dritten Major-Endspiel des Jahres nach den Australian Open und Wimbledon das zweite Grand-Slam-Turnier in ihrer Karriere gewinnen. "Es ist ein großartiger Tag", bekannte Kerber hinterher: "Ich bin hier zum ersten Mal im Endspiel, das bedeutet mir so viel. Und ich bin die Nummer eins, das ist toll."
Bevor sie den Platz verließ, verteilte sie noch in alle Himmelsrichtungen Küsschen ans Publikum im Arthur-Ashe-Stadion. So wie es einst Andre Agassi in die Tennisszene eingeführt hat. Mit dem US-Amerikaner verbindet sie eine Menge. Er und auch seine Ehefrau Steffi Graf sind so etwas wie Supervisoren für Kerber, manchmal empfangen sie die Deutsche bei sich zu Hause in Las Vegas, um ihr Spiel zu vitalisieren und zu verfeinern. Sie sind ein eingespieltes Team.