Technologie im Skispringen:Mehr als abstrakte Schinderei

Hans-Heini Gasser ist zurück aus seinem Büro und legt einen dicken blauen Ordner auf den Tisch. Gasser ist ein bedächtiger Mann, aber stattlich, und sein Alter scheint ihm noch nicht viel Kraft genommen zu haben. Gasser ist seit 1973 für die Fis tätig. Er ist ein stiller Pionier des Skispringens: Die Standards des modernen Schanzenbaus gehen auf Gassers Berechnungen zurück. Gasser ist Bauingenieur im Teilzeit-Ruhestand, deshalb hat er noch das Büro bei einer Holzbaufirma in seinem Wohnort Lungern, Schweizer Kanton Obwalden.

Die Mathematik begeistert ihn, und wenn er im feinen Schweizerdeutsch davon erzählt, erschließt sich einem schnell, dass es sich bei diesem Fach nicht nur um eine abstrakte Schinderei handelt, als die es viele Schüler kennengelernt haben. Sondern um eine Sprache des Lebens, in der man Phänomene der Physik abbilden kann. "Die Mathematik ist nur das Werkzeug der Physik", sagt Gasser, "sie ist wie für den Dichter die Buchstaben, die er in die richtige Reihenfolge bringt, um seine Gedanken in Worte zu fassen."

Er schlägt den Ordner auf, und es ist, als würde er damit Einblick gewähren in sein Mathematiker-Gehirn. Zahlen, Zeichen, Koordinatensysteme stehen da in ordentlicher Bleistiftschrift auf Karo-Papier. Für einen Laien ist es wie ein Text aus Rätselschrift. Für Gasser sind es die Notizen, die den Einfluss des Windes auf die Flugbahn des Springers ausdrücken oder die Geometrie des Übergangs von Anlauf zu Schanzentisch.

"Recht komplizierte Dinge sind das", sagt Gasser. Die kleine Tätigkeit des Skispringens, der triviale Fernsehsport, über den jeder etwas zu wissen glaubt, wird zu einem seitenlangen Code. Dieser Code wiederum ist die Vorlage für jene Programme, nach denen der Computer bei den Schanzenwettkämpfen nach jedem Sprung im Bruchteil einer Sekunde verschiedenste Daten erfasst und in Punkt-Gutschriften oder -Abzüge umrechnet.

Jede Schanze des Weltcups hat ihr eigenes Formelpaket, das die Fis-Mathematiker aus den charakteristischen Werten der Schanzen zusammengestellt haben. Der Gate-Faktor in Garmisch-Partenkirchen ist ein anderer als in Oberstdorf, ein halber Meter pro Sekunde Rückenwind bringt in Innsbruck eine andere Pluspunktzahl als in Bischofshofen.

Die Berechnung des Gate-Faktors ist kompliziert, noch komplizierter ist es, den Wind-Einfluss in Punktwerte zu gießen. So kompliziert, dass Hans-Heini Gasser anfangs dachte: Das geht gar nicht, weil es nie möglich sein werde, alle Luftbewegungen, die auf den Springer einwirken, erfassen zu können. Aber dann berücksichtigte er das physikalische Gesetz, wonach sich Seitenwind sehr wenig auf die Weite eines fliegenden Objekts auswirkt. Danach ging es. Zumindest ungefähr.

"Man kann nicht die ganze Natur ausmessen und in ein Rechenmodell packen", sagt Hans-Heini Gasser. Eine Ansammlung von Mittelwerten trägt zum Gelingen der Kompensations-Gleichungen bei. Vor allem der Wind lässt sich nicht präzise greifen. "Das verschweige ich niemandem", sagt Gasser. Die Windmessgeräte stehen am Rande des Hangs. Was in der Mitte passiert, weiß keiner, und ohne Daten kann die Mathematik nichts für die Wahrheitsfindung tun.

"Es kommt irgendein Windfaktor heraus", grummelt Gregor Schlierenzauer, "das ist das, was mir nicht schmeckt." Gasser versteht schon, das System ist unvollkommen, keine Frage. Aber wenn es ums Skispringen geht, um diesen seltsamen Sport, der so leicht zum Spiel des Windes wird, dann findet er, dass die Wahrheit mit den Gleichungen immer noch besser ist als die Wahrheit ohne die Gleichungen. Hans-Heini Gasser hat es auch dem Direktor Hofer so gesagt: "Wir sind nicht exakt. Wir müssen Fehler zulassen. Aber im großen Zusammenhang liegen wir richtig."

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