Technische Hilfsmittel im Fußball:Video-Schiri - wie die Revolution noch an der Praxis scheitert

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In den Niederlanden kommt der Video-Schiedsrichter längst auch in Punktspielen zum Einsatz. (Foto: AFP)
  • Beim Spiel zwischen Deutschland und Italien kommt testweise ein Referee am Bildschirm zum Einsatz.
  • Er soll in einem Raum im Mailänder Stadion sitzen und dem Schiedsrichter im Zweifelsfall über Funk helfen.
  • Die Pläne der Fifa sind weitreichend - doch es gibt haufenweise Probleme, die zu klären sind.

Von Martin Schneider, Mailand

Eventuell wird Schiedsrichter Artur Soares Dias während des Fußballspiels Italien gegen Deutschland einen Bildschirmumriss in die Luft malen. Er wird dann - vermutlich mit seinen Zeigefingern - ein Rechteck nachzeichen und anschließend werden ein paar Sekunden vergehen. Der Portugiese könnte über sein Headset mit einem verborgenen Raum im Mailänder Giuseppe-Meazza-Stadion verbunden sein, er könnte über Funk bei den dort sitzenden Menschen nachfragen. Und dann zum Beispiel einen Elfer pfeifen.

Der in die Luft gezeichnete Bildschirm ist zumindest beim Freundschaftsspiel am Dienstagabend in Mailand das international anerkannte Zeichen für Videobeweis. Nachdem das System bereits Anfang September beim Testspiel Italien gegen Frankreich ausprobiert wurde, ist nun ein Spiel der deutschen Nationalmannschaft dran. Erstmals könnte also beispielsweise jemand vom Platz fliegen, weil ein Schiedsrichter die Szene auf einem Bildschirm gesehen hat. "Es geht darum, den Fußball ehrlicher zu machen", sagte der niederländische Ex-Stürmer Marco van Basten, der jetzt bei der Fifa für die Abteilung "Technische Entwicklung" zuständig ist. Man darf sagen: Dieser Schritt kommt einem Revolutiönchen gleich.

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Vor dem Testlauf im Spiel der Nationalelf referierten in Mailand neben van Basten Experten der Fifa und auch Ex-Schiedsrichter Hellmut Krug, der in Deutschland für die Umsetzung des Projektes verantwortlich ist, wie die Experimente mit dem Videobeweis laufen. Erst im vergangenen März wurde die Testphase beschlossen, in den Niederlanden kommt das System schon in Pflichtspielen zum Einsatz. Der aktuelle Zwischenstand: Der Videoschiedsrichter hat viele Fans, aber es gibt diverse ungeklärte Fragen. Einige davon werden nicht so leicht zu beantworten sein.

Das System funktioniert grundsätzlich so: Gibt es eine strittige Szene, nehmen Referee und Video-Schiedsrichter über das Headset miteinander Kontakt auf. Beide können den jeweils anderen anfunken. Das sollen sie aber nicht bei allen möglichen strittigen Szenen machen. Das Protokoll sieht als ersten großen Grundatz nur vier Situationen vor, in denen der Video-Referee einschreiten kann.

  • Erstens: Wenn ein Tor gefallen ist und es eine Szene gab, die das Tor direkt beeinflusst hat.
  • Zweitens: Bei einem Elfmeter.
  • Drittens: Bei einer roten Karte.
  • Viertens: Wenn der Schiedsrichter zum Beispiel Spieler A eine gelbe Karte zeigt, aber Spieler B das Foul begangen hat.

Der Video-Schiedsrichter, und das ist der zweite große Grundsatz, soll aber nur dann eingreifen, wenn die Situation vom Feld-Schiedsrichter "klar falsch" bewertet wurde. Was zu der Frage führt: Wann ist eine Situation klar falsch?

"Wir haben da immer das Handspiel von Leon Andreasen als Beispiel im Hinterkopf", sagte Hellmut Krug. Andreasen erzielte für Hannover 96 im Oktober 2015 ein Tor im Volleyball-Stil, der Schiedsrichter sah es nicht. Bei vielen alltäglichen Szenen sei die Entscheidung aber sehr viel schwieriger, referierte Krug. Nur weil auf Bildern etwa ein Kontakt zwischen Fuß und Schienbein zu erkennen ist, muss dieser noch nicht ursächlich für einen Sturz gewesen sein. Auch sehen manche Fouls in Real-Geschwindigkeit ganz anders aus als in Zeitlupe. Wie man eine Situation bewertet, sagte Krug, das hänge auch davon ab, welche Bilder man sich anschaue, und in welchem Tempo.

Das führt zum nächsten Problem: Die Auswahl der Bilder. Neben dem Video-Schiedsrichter wird ein sogenannter Operator sitzen, der aus dem Rohmaterial der Fernsehsender die Szenen auswählt und entscheidet, anhand welcher Aufnahmen der Video-Schiedsrichter die Situation am besten bewerten kann. "Diese Operator müssen hochkompetent sein", sagte Krug. Beim Freundschaftsspiel in Mailand werden die Operatoren und Video-Schiedsrichter in einem Zimmer im Stadion sitzen, in Deutschland sollen sie in Zukunft bei Bundesligaspielen in einer Zentrale in Köln die Spiele beobachten und von dort entscheiden.

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Der Video-Schiedsrichter und der Operator müssen also in kurzer Zeit folgende Entscheidungen treffen: Ist die Szene anhand der vier Kategorien relevant? Welche Bilder braucht man dazu? Ist die Entscheidung klar falsch? Muss sie geändert werden? 15 bis 20 Sekunden soll dieser Prozess der Entscheidungsfindung dauern, sagte Krug. Wenn es länger dauert, sei es keine klare Fehlentscheidung gewesen, so die Logik dahinter. Im Moment werden die Schiedsrichter in Deutschland geschult und sensibilisiert. Als Video-Schiedsrichter kämen aktuelle Bundesliga-Schiedsrichter oder solche, die gerade in den Ruhestand gegangen sind, in Frage.

Aber auch, wenn die Teams diesen Prozess irgendwann perfekt beherrschen, gibt es noch Klärungsbedarf. Ein Beispiel aus der Praxis: Team A ist im Angriff und verliert den Ball im gegnerischen Strafraum durch ein klares Foul von Team B. Der Schiedsrichter sieht es nicht und lässt weiterlaufen. Team B kontert und schießt ein Tor. Was tun? Gehen wir davon aus, dass es eine klare Fehlentscheidung war. War das Foul nun relevant für das Tor? Wenn ein direkter Konter mit drei, vier Pässen folgt, eher ja.

Wenn ein längerer Angriff gestartet wird, wahrscheinlich eher nicht. Wo zieht man die Grenze? "Das ist eine Frage, die wir nicht vollständig beantworten können", sagte Lukas Brud vom IFAB, dem Gremium der Fifa, das für die Fußballregeln zuständig ist. "Wenn wir jetzt sagen würden: Wir gehen zwölf Sekunden zurück, was ist, wenn das Foul in der 13. Sekunde war? Man könnte theoretisch auch bis zu dem Zeitpunkt zurückgehen, an dem der Ballbesitz wechselt." Weil solche Fragen noch nicht beantwortet sind, sei man eben noch in der Testphase.

Ein anderes Dilemma offenbart sich rund um die Abseitsregel. Die Abseits-Linie, die im Fernsehen eingeblendet wird, ist laut Krug oft fehlerhaft. Im Moment gebe es kein technisches System, dass eine saubere Abseits-Messtechnik biete. Aber selbst wenn es die irgendwann gibt, würde das vermutlich dazu führen, dass Schiedsrichter-Assistenten in knappen Abseits-Situationen die Fahne eher unten lassen. Ein unterlassener Pfiff lässt sich durch den Videoschiedsrichter korrigieren, ein fälschlich abgebrochener Angriff kann aber nicht wiederholt werden. Im Moment ist es außerdem noch so: Hebt der Linienrichter die Fahne, hören Abwehrspieler oft auf zu spielen. War die Entscheidung jedoch falsch und spielt der Stürmer trotzdem weiter und schießt ein Tor, zählt der Treffer in Zukunft. "Dieses Verhalten werden sich die Abwehrspieler dann abgewöhnen müssen", sagte Krug.

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Ende der Testphase wird 2018 sein, in der Bundesliga soll die Technik ab der Saison 2017/18 getestet werden. Im nächsten Test-Schritt soll der Feld-Schiedsrichter auch durch einen Bildschirm neben dem Platz die Möglichkeit haben, die Szenen selbst einsehen zu können. Trotz der noch vorhandenen Schwierigkeiten hat das System mit Videoschiedsrichter jedenfalls einen mächtigen Unterstützer: Fifa-Präsident Gianni Infantino hat sich schon mehrfach positiv dazu geäußert, seine Hoffnung ist es, die Technik bei der WM 2018 in Russland einzusetzen. Auch beim ersten Test bei einem Spiel der deutschen Nationalmannschaft wird er im Stadion in Mailand sein.

Die Regelhüter des Fußballs haben übrigens bewusst darauf verzichtet, den Mannschaften das Recht zu geben, den Beweis einzufordern. Im Tennis kann zum Beispiel jeder Spieler dreimal pro Satz eine Schiedsrichter-Entscheidung per Hawk-Eye überprüfen lassen. Lag der Spieler dreimal falsch, ist die Option weg. "Nehmen Sie das Handspiel von Thierry Henry in der WM-Qualifikation 2010 gegen Irland", erklärt Brud dazu. "Wenn so etwas noch mal passiert: Was wäre, wenn beide Teams ihre Einspruch-Möglichkeiten aufgebraucht hätten? Dann wäre die Technik im Stadion vorhanden und trotzdem käme es zu einer krassen Fehlentscheidung." Das könne man keinem vermitteln.

"Das System lebt vom Grundsatz, dem Schiedsrichter zu helfen", erklärt Brud. Das sei der Leitgedanke in der gesamten Testphase. Und der kommt bei den Unparteiischen sehr gut an, sagt Krug: "Alle Schiedsrichter, mit denen wir geübt haben, sind begeistert."

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