Teamvergleich Deutschland vs. Brasilien:Mit bayerischen Muskeln gegen höhere Kräfte

Lesezeit: 5 min

Seht her, Brasilianer: So sieht ein eine Schweinsteiger-Wade aus Oberaudorf aus! (Foto: Getty Images)

Die Brasilianer glauben an den Allmächtigen, die Deutschen an die Eistonne: Eine genaue Analyse der Stärken und Schwächen beider Mannschaften zeigt, worauf es im WM-Halbfinale im Brüllkessel von Belo Horizonte ankommen wird. Und die Niederländer mischen auch mit.

Von Thomas Hummel, Belo Horizonte

Brasilien gegen Deutschland - seit der Auslosung im Dezember des vergangenen Jahres lief die Fußball-Weltmeisterschaft auf dieses Halbfinal-Duell zu. Es konnte gar nicht anders laufen: Die beiden Verbände führen die ewige WM-Tabelle an (Brasilien vor Deutschland), ihre Teams haben die meisten WM-Partien absolviert (Deutschland vor Brasilien), die meisten WM-Tore geschossen, die meisten Siege errungen (zweimal Brasilien vor Deutschland). Nur bei der Anzahl der Titel drängelt sich Italien dazwischen.

Wer gewinnt das Spiel an diesem Abend in Belo Horizonte? "Kleinigkeiten werden darüber entscheiden, wer ins Finale einziehen wird", sagte Bundestrainer Joachim Löw. Ein V-Mann im Fifa-Hauptquartier an der Copacabana spielte Süddeutsche.de die Liste der entscheidenden Kleinigkeiten zu. Alles, was bislang wichtig war im Turnier, kulminiert demnach im Éstadio Mineirão.

Bissfestigkeit

Der Mexikaner Marco Rodríguez ist Schiedsrichter der Partie. Eine logische Wahl, schließlich übersah er den Biss des Urugayers Luis Suárez, weshalb der Fußball-Weltverband seelenruhig eine nie gekannte Strafe aussprechen konnte. Der Spanier Carlos Verdasco Caballo hingegen sah das Foul des Kolumbianers Zúñiga gegen Neymar, ahndete es aber nicht. Die Fifa konnte der brasilianischen Sehnsucht nach Rache nicht nachkommen.

Im richtigen Moment nicht hinzuschauen, ist das Beste, was ein WM-Schiedsrichter machen kann. Für wen das am Dienstag ein Vorteil ist, darüber wird heftig debattiert. Einen Biss immerhin müssen die Deutschen nicht fürchten. Auch wenn David Luiz noch so sehr die Zähne fletscht, Thomas Müller kriegt er trotzdem nicht. An Mesut Özil ist nichts dran und sollte er Bastian Schweinsteiger in den Oberschenkel knabbern, wird er erfahren, was eine oberbayerische Muskelfaser ist.

Punkt für Deutschland.

Zentimeterglück

Eine alte, ungeschriebene Regel bei Fußball-Turnieren heißt: Du hast nur einmal Glück. Nie hat eine Mannschaft während einer WM zweimal ein Elfmeterschießen gewonnen. Ganz selten gelingt es einer, sich zweimal durchzumogeln. Insofern müssen die Brasilianer schon nach 90 Minuten alles klarmachen.

Löw und Scolari vor dem WM-Halbfinale
:Gut gelaunt ins Monsterspiel

Vor dem WM-Halbfinale zwischen Deutschland und Brasilien muss ein höllischer Druck auf den Verantwortlichen liegen. Doch bei ihrem letzten öffentlichen Auftritt wirken Löw und Scolari überraschend locker. Nur einmal verfliegt die gute Laune.

Von Thomas Hummel

Chile verlangte ihnen im Achtelfinale so viel ab, dass die Brasilianer ihr WM-Glück gänzlich aufgebraucht haben. Eigentlich reichte das Zentimeterglück der Seleção in diesem Spiel für zwei Turniere. Nach 120 Minuten knallte Mauricio Pinilla den Ball gegen die brasilianische Latte. Beim letzten Schuss im Elfmeterschießen von Gonzalo Jara machte sich die Kugel das Vergnügen, von der Innenseite des rechten Pfostens um den linken Pfosten herum ins Toraus zu fliegen. Ein seltenes Kunststück, das Brasilien weiterkommen ließ.

Und Deutschland? Hat Manuel Neuer.

Minuspunkt für Brasilien.

Verbindung nach oben

Die Spiele der Brasilianer sind aufgeladen mit Emotionen, Leidenschaft, Glücksexplosionen und Gesprächen mit höheren Kräften. Es wird gekniet und gebetet mitten auf dem Rasen. Das Elfmeterschießen gegen Chile dürfte nach dem Fronleichnamsumzug die größte Prozession des Jahres in Brasilien gewesen sein. Dazu arbeitet die Seleção mit der Mentaltrainerin Regina Brandão zusammen. Auch sie weist offenbar den Weg zum Allerheiligsten. Kapitän Thiago Silva sagte: "Das erste Zeichen war der Ball am Pfosten gegen Chile. Es gibt Dinge, die außerhalb des Fußballs sind, die wir mit Regina besprechen. Sie beeinflussen uns trotzdem."

Die Frage ist nun: Weist Gott den Brasilianern den Weg zum heiß erwünschten Weltpokal? Oder hat er doch Besseres zu tun, als ein Elfmeterschießen zu beeinflussen? Ist Letzteres der Fall (und aufgeklärte Europäer können sich nichts anderes vorstellen), dann fahren die Deutschen wesentlich besser mit ihrem Hans-Dieter Hermann. Der Teampsychologe sagte zuletzt: "Wir versuchen, die Bedingungen zu optimieren." Brasiliens Fußballgott wird erfahren, was es bedeutet, wenn Deutsche sich gut vorbereiten.

Punkt für Hermann, äh, Deutschland.

Standards der DFB-Elf
:Löws neue Liebe

Auch Schabernack-Varianten wie jene von Thomas Müller können Joachim Löw nicht mehr umstimmen: Er hat seine Liebe zur langweiligen Standardsituation entdeckt - und dafür seine Spielidee radikal korrigiert. Im WM-Halbfinale gegen Brasilien droht ein Wett- und Zielschießen.

Von Christof Kneer

Kreativität bei Freistößen

Wenn dieser Trick mit den Kniefall geklappt hätte, Joachim Löw hätte seinen Fußballlehrer-Schein zurückgeben müssen. Hat der Bundestrainer doch jahrelang die Standardsituationen vernachlässigt, was die Nationalmannschaft ungefähr drei bis vier Titel gekostet hat. Und dann legt sich in Porto Alegre Thomas Müller beim Anlauf hin. Während die Algerier in der Mauer sich den Bauch vor Lachen hielten, läuft er einfach weiter. Hätte Toni Kroos den Ball nur ein bisschen höher gelupft, Müller hätte alleine vor dem Tor gestanden.

Fünf der zehn Tore haben die Deutschen nach einem "ruhenden Ball" erzielt. Sie liegen damit knapp vor Brasilien mit vier von zehn. Gut, da war der Freistoßtorpedo von David Luiz. Doch selbst wenn Luiz einen Ball ins Kreuzeck nagelt, die deutschen Fans können beruhigt sein: Frage an Miroslav Klose: Woher die neue Standardstärke? Antwort: "Wenn man lange übt, dann klappt das. Wir haben das allgemein sehr viel geübt." Bald klappt auch der Trick mit Müller? "Ne, da haben wir schon einen anderen."

Dreifachpunkt für Deutschland, ein Luiz-Punkt für Brasilien.

Trashtalk-Kenntnisse

Tim Krul dürfte einen Trend gesetzt haben. Den Gegner mal so richtig anpöbeln, damit der bei Elfmeterschießen noch mehr Angst hat. "Ich weiß, wohin du schießt", brüllte der niederländische Torwart den Costa Ricanern entgegen. Er baute sich vor ihnen auf, schubste sie mit der Brust fast aus dem Strafraum heraus. Das Elfmeterschießen wird zum Psychoterror. Doch wer soll das zwischen Brasilien und Deutschland übernehmen? Manuel Neuer? Viel zu gut erzogen. Júlio César? Zu fromm. Oliver Kahn? Ist mit Oliver Welke damit beschäftigt, fernsehtaugliche Sprüche zu üben. Zudem würde man jedwedes Trashgebrabbel im Brüllkessel des Éstadio Mineirão sowieso nicht hören.

Brasiliens Verteidiger Dante bei der Fußball-WM
:Eine schrecklich nette Familie

Und jetzt spricht plötzlich vieles für Dante: Der lebensfrohe Profi des FC Bayern hofft nach der Gelbsperre von Thiago Silva ausgerechnet gegen Deutschland auf seinen ersten WM-Einsatz. Wie sein Elternhaus darüber denkt? Blitzbesuch bei einem außergewöhnlichen Clan.

Von Boris Herrmann

Punkt geht an die Niederlande.

Spielort Belo Horizonte

Als klar war, dass der deutsche Tross aus dem wunderbaren Rio de Janeiro abreist mit dem nächsten Stopp Belo Horizonte, da blickten einige sich fragend um. Belo Horizonte? Wie sieht es da aus? Ein sehr erfahrener Reporter, der so ziemlich alles erlebt hat auf dieser Fußballwelt, antwortete: Belo Horizonte ist wie Dortmund. Beides frühere Bergarbeiter-Städte, beide geprägt von viel Beton und wenig Attraktion. Beides grundsolide Ortschaften mit Charakter und Fußball-Begeisterung. Dortmund! Erweckungs- und Schreckensort der Heim-WM 2006. Zuerst der Ausbruch beim 1:0 in der Nachspielzeit gegen Polen, dann das Schweigen nach dem 0:2 gegen Italien im Halbfinale. Belo Horizonte! Erweckungsort der Heim-WM 2014. Ausbruch beim Sieg im Elfmeterschießen gegen Chile. Und jetzt Halbfinale.

Falls die WM-Geschichte irgendwas für die WM-Gegenwart bedeutet: Wiedergutmachungspunkt für Deutschland.

Klima-Härte

Mann, waren die Deutschen sauer. Da haben ihnen alle erzählt: Hey, wenn ihr Erster werdet in der Gruppe, ist es vorbei mit der Hitze. Dann dürft ihr nach Porto Alegre, wo tatsächlich deutsches Herbstwetter herrscht. Und in Rio ist ja auch Winter, das ist wie die Lüneburger Heide im Frühling. Von wegen! "Redebedarf" mahnte Kapitän Philipp Lahm an, "mit den Ärzten, die uns was vorgegaukelt haben." Denn das Éstadio do Maracanã glich im Viertelfinale einer "Grillbude", wie Thomas Müller erklärte.

Die Brasilianer mussten in Brasilien noch kein Spiel unter Extrem-Bedingungen bestreiten. Ihre zwei Partien in Fortaleza waren abends, in Rio, Brasília und Belo Horizonte herrschten angenehme Temperaturen. Auch im Halbfinale wird das so sein. Per Mertesacker würde sagen: Brasilien hat es gar nicht verdient, Weltmeister zu werden. So ohne Hitze, Luftfeuchtigkeit, Leiden, Eistonne. Die Deutschen haben sich mit jeder klimatischen Prüfung mehr eine Aura der Unbesiegbarkeit zugelegt. Das gemäßigte Belo Horizonte abends um 17 Uhr (um 18 Uhr ist es bereits stockdunkel) ist da ein Klacks.

Eistonnen-Punkt für Deutschland.

Fifa-Faktor

Da hat den Deutschen ein gewisser Franz Beckenbauer einen echten Bärendienst erwiesen. Hat er sich doch mit dem Weltverband überworfen, weil er ein paar Fragen zur WM-Vergabe 2018 und 2022 nicht auf Englisch beantworten wollte. Und erst DFB-Chef Wolfgang Niersbach! Der stellt sich offen gegen Joseph S. Blatter, den Allmächtigen des Weltfußballs! VOR der WM! Liebe Herren, hättet ihr das nicht nach der WM machen können? Allmacht-Blatter wird nun alles tun, um zu verhindern, dass er am kommenden Sonntag den Weltpokal einem Deutschen überreichen muss. Wenigstens saß Kanzlerin Angela Merkel beim Portugal-Spiel in der Nähe von Allmacht-Blatter und besänftigte den guten Mann ein wenig.

Da auch die Brasilianer ständig und überall auf diesen Allmächtigen eintrommeln und Merkel im Besänftigen bekanntlich unschlagbar ist: Nur sechs Blatter-Minuspunkte für Deutschland.

Damit steht das Ergebnis fest: Deutschland gewinnt 1:0. Die Niederlande auch.

© SZ.de/jbe - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: