Spielmanipulation im italienischen Fußball:"Es gibt Dinge, die mir wichtiger sind als die EM"

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Der italienische Manipulationsskandal erreicht eine neue Spitze: Italiens Nationaltrainer Cesare Prandelli schließt als Konsequenz aus den Ermittlungen gegen einige seiner Spieler einen EM-Verzicht nicht mehr aus. Der als integer geltende Coach stellt sich damit an die Seite von Ministerpräsident Monti - das letzte Testspiel verliert Italien mit 0:3.

Birgit Schönau, Rom

Vor einer Woche stand Cesare Prandelli vor einer der schwierigsten Entscheidungen für einen Nationaltrainer: Den endgültigen Kader für die EM auszuwählen. Wer darf mit? Wer muss zu Hause bleiben? Das ist schwierig. Inzwischen aber muss Prandelli dieses Verdikt wie ein harmloses Ritual aus einer längst versunkenen, heilen Welt vorkommen. Denn jetzt geht es ums Ganze. Spielen oder nicht spielen?

Tatsächlich auf dei EM verzichten? Italiens Nationaltrainer Prandelli hätte nichts dagegen. (Foto: dpa)

Öffentlich denkt der Trainer über einen EM-Verzicht der Azzurri nach. "Falls mir deutlich gemacht würde, dass es besser wäre, nicht zur Europameisterschaft zu fahren, hätte ich damit kein Problem. Es gibt Dinge, die mir wichtiger sind." Also sprach Prandelli am Freitag im Staatsrundfunk RAI. Die Squadra Azzurra befand sich da schon in Zürich, wo am Abend das Testspiel gegen Russland angesetzt war.

"Ich würde gern einfach nur über Fußball reden", sagte der Commissario Tecnico, "aber das ist leider unmöglich." Seit Pfingstmontag die Polizei im Trainingslager eine Hausdurchsuchung durchführte und dabei Verteidiger Domenico Criscito einen Ermittlungsbescheid wegen Verdachts auf Spielmanipulation übergab, ist an der Turniervorbereitung der Squadra nichts mehr normal. Am Donnerstag der nächste Schock: Kapitän Gianluigi Buffon, 34, soll binnen weniger Monate fast 1,6 Millionen Euro für Sportwetten ausgegeben haben. Die Staatsanwaltschaft in Cremona ermittelt nach einem Hinweis der Finanzpolizei.

Der Guardia di Finanza waren Zahlungen von Buffons Konten an den Inhaber eines Tabakladens mit Wettbüro in Parma aufgefallen. Mit 14 Schecks hatte Buffon dem Mann zwischen Januar und September 2010 Beträge zwischen 50.000 und 200.000 Euro gezahlt. Wofür? Die Finanzpolizisten tippten auf Wetten. Das ist nicht strafbar. Aber Fußballprofis dürfen nicht auf Fußballspiele setzen, so steht es im Verbandsstatut. Zwei Jahre Sperre stehen darauf. Vor der WM 2006 konnte Buffon einen ähnlichen Verdacht noch zerstreuen, jetzt schweigt er.

Sein Anwalt erklärte, Buffon habe mit den Zahlungen an den Tabakhändler "sein persönliches Vermögen schützen" wollen. Der Geschäftsmann sei ein Vertrauter. Es sei um Immobiliengeschäfte gegangen. Den Nachweis blieb der Jurist schuldig. Dass die Staatsanwaltschaft die Untersuchung publik gemacht hatte, bezeichnete er als "Hinterhalt".

Sicher kann man die Frage stellen, warum die Ermittler in Cremona erst jetzt die Öffentlichkeit benachrichtigen, wenn die Kollegen in Turin, die die Akte Buffon weitergeleitet hatten, bereits seit dem 13. Juni 2011 Bescheid wussten. Im Dezember hatte Turin Cremona informiert. Aber erst eine Woche vor dem Beginn der EM steht Buffon öffentlich unter Verdacht. Weil die Aufmerksamkeit jetzt am größten ist? Der federführende Staatsanwalt Roberto Di Martino hatte vor Tagen erklärt, seine Behörde habe das Saisonende in den Ligen abgewartet. Bis zum Ende der EM wollte man sich offenbar nicht gedulden.

Für Buffon geht es nicht um Spielmanipulationen, nicht um Betrug, sondern um etwas weniger Greifbares: Ansehen, Ehre. Der Kapitän könnte eine Nationalmannschaft in Misskredit bringen, die Cesare Prandelli mit großer Anstrengung und strengen Vorschriften moralisch zu erneuern sucht. "Wer patzt, fliegt raus", das war bis jetzt Prandellis Motto, der Trainer will, dass seine Azzurri das bessere Italien repräsentieren. Könnte ein Spieler, der als Zocker gilt, diese Mannschaft noch führen?

Das ist die eine Frage. Die nächste: Könnten die Azzurri ohne Buffon starten? Sportlich gäbe es da wohl kein Problem, Buffons Vize Morgan De Sanctis vom SSC Neapel steht der Nummer 1 kaum nach. Für die Stimmung im Team wäre ein erzwungener Abgang des Kapitäns aber sicher dramatisch.

Buffon erlebe "einen schwierigen Moment", ließ Prandelli wissen. Vielleicht dauert dieser schwierige Moment schon Jahre. Die Gazzetta dello Sport zitierte am Freitag einen Freund Buffons, der den Weltmeister von 2006 als "wettkrank" bezeichnete. Die Spekulationen werden weiter blühen, wenn Buffon das Turnier bestreitet.

Domenico Criscito wurde aus dem Spiel genommen, weil er, wie Prandelli erklärte, unter dem Verdacht nicht unbeschwert hätte antreten können. Auch gegen den Juventus-Spieler Leonardo Bonucci wird ermittelt. Aber ihn wollte Prandelli am Freitag noch mitnehmen, weil kein offizieller Ermittlungsbescheid vorliegt. Fährt also die Squadra Azzurra mit Buffon und Bonucci? Oder fährt sie überhaupt nicht?

Alle EM-Kader
:13 Triple-Vizes und die alten Russen

Die Trainer haben ihre Kader für die Fußball-EM bekanntgegeben. Die meisten renommierten Profis sind dabei - nur Spanien muss auf zwei wichtige Stammspieler verzichten. Der FC Bayern stellt mit 13 Spielern die meisten aus einem Klub, dafür kommt aus der Premier League mit 76 Spielern das mit Abstand größte Liga-Kontingent. Alle EM-Kader im Überblick.

Es gibt Wichtigeres im Leben. Der das sagt, ist Coach einer Nation, die vier Weltmeisterschaften gewonnen hat. Die im In- und Ausland mit Fußball identifiziert wird - Papst, Mafia, Ball, die Dreieinigkeit der Italienklischees. Die heißblütigsten Tifosi, die schillerndsten Klubbosse, die schönsten Spieler. Und die abgebrühteste Taktik, die größten Skandale, die fiesesten Mauscheleien, die meistgehassten Schwalbenkönige, bis vor kurzem regierte gar der Fußballpräsident Berlusconi das Land. Ganz großes Drama, ganz finstere Schmierenkomödie, manchmal auch lächerlichste Operette. Was ist Italien ohne Fußball? Und was, bitte schön, ist Fußball ohne Italien?

Prandellis Vorstoß scheint unerhört zu sein. Aber viel skandalöser ist die Woche, die der Calcio gerade erlebt hat. Jeden Tag gab es neue Schreckensnachrichten, jeden Tag erscheint der Sumpf, in dem der Fußball zu verschwinden droht, noch tiefer und trüber. Und wenn auch die Bemerkung von Regierungschef Mario Monti, in diesem Gruselszenario den Ligabetrieb lieber zwei, drei Jahre ruhen zu lassen, nicht ganz ernst gemeint war: Viele Italiener stimmen Monti zu.

Gerade hatte Juventus Turin den Meistertitel gewonnen, da wurde Juve-Trainer Antonio Conte verdächtigt, im Vorjahr beim AS Siena Spiele manipuliert zu haben. Stefano Mauri, der Kapitän von Lazio Rom, sitzt bereits seit Montag unter Betrugsverdacht in Untersuchungshaft. Conte und Mauri sind nur die prominentesten Protagonisten eines gigantischen Wettskandals mit Beteiligten in allen italienischen Profiligen, in Ungarn, Mazedonien, Bosnien und Singapur. "Wir fühlen uns, als müssten wir das Meer mit einem Teelöffel leeren", sagen die Staatsanwälte in Cremona.

Im Moment sieht es eher so aus, als würden sie keinen Stein auf dem anderen lassen. Dutzende von Verhaftungen, noch mehr Verdächtigte - und am Schluss dräuen drakonische Strafen. Lazio und dem SSC Neapel winken Punktabzug und Ausschluss aus der Europa League, manchen Spielern droht das Karriereende, anderen eine Haftstrafe, und einer, der sich eigentlich die letzten Spielerjahre in Dubai vergolden lassen wollte, hat jetzt vielleicht Ärger mit seiner Frau.

Mit kompromittierenden Fotos soll der bereits als Wettbetrüger verdächtigte CFC-Genua-Spieler Giuseppe Sculli versucht haben, seinen Kollegen Luca Toni zu erpressen. Sculli ist der Enkel eines 'Ndrangheta-Bosses. Gemeinsam mit einem vorbestraften Kurvenführer plante er offenbar, Toni zu nötigen: "Ich sage dem: Sonst zeige ich diese Fotos der Signora Marta." Marta, so heißt Luca Tonis Dauer-Verlobte. Die Bilder, so zitierte der Corriere della Sera aus dem Fahndungsprotokoll, hätten Toni mit jungen Frauen gezeigt. Luca Tonis Anwalt dementierte alles. Keine Erpressung, keine Fotos. Wenigstens in der Wüste soll Ruhe sein.

Anmerkung: Am Freitagabend verlor die italienische Nationalmannschaft ihr letztes Testspiel vor der Europameisterschaft Russland im Züricher Letzigrund-Stadion mit 0:3 (0:0). Die Treffer für die überlegenen Russen erzielten Alexander Kerschakow in der 59. und Roman Schirokow in der 75. und 89. Spielminute.

© SZ vom 02.06.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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