Spanien:Morata gibt den perfekten Zuschauer

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"Wenn Du einen Ball bekommst nach 30, 40 Pässen, muss er sitzen": In Álvaro Morata hat Spanien wieder einen Stürmer, der den Ballbesitzfußball veredelt. (Foto: Ali Haider/dpa)

Bei Juventus Turin ist Álvaro Morata zu dem Stürmer herangereift, der Spaniens komplexe Anforderungen erfüllt. Plötzlich will ihn sogar Real Madrid zurück.

Von Javier Cáceres, Nizza

Der Markt für talentierte Fußballerbeine ruht auch während der Europameisterschaft nicht. Und so war es nur eine Frage der Zeit, bis Álvaro Morata, zurzeit noch als Stürmer bei Juventus Turin angestellt, nach dem Spiel der Spanier gegen die Türkei in Nizza von den italienischen Experten für Mercato-Angelegenheiten nach seiner beruflichen Zukunft befragt wurde.

"Keine Ahnung", sagte Morata, und er wirkte dabei nicht so, als würde es ihn interessieren: "Ich habe noch nicht aufs Telefon geschaut." In Frankreich ist er eh auf andere Dinge fokussiert. Seine Mission in Frankreich ist eine andere. Sie lautet schlicht: Tore für Spanien. Am Dienstag (21 Uhr im SZ-Liveticker) wollen die Titelverteidiger in Bordeaux gegen Kroatien den Punkt sichern, der noch fehlt, um als Gruppensieger ins Achtelfinale einzuziehen.

Zurzeit läuft es ganz gut, Morata führt das auch auf die Wiederholung eines Rituals zurück. Vor zwei Jahren hatte er sich in Tagen quälender Flaute bei seinem Stammverein Real Madrid den Kopf von Sergio Ramos scheren lassen und danach das Tor wieder getroffen. Unmittelbar vor der EM legte der Innenverteidiger nun erneut Hand an, "wir sind beide abergläubisch".

Im ersten Gruppenspiel gegen die Tschechen ging Morata zwar noch leer aus. Gegen die Türken erzielte der 23-Jährige dann aber zwei Treffer, "es war bloß eine Frage der Zeit", sagte er hinterher. Nachdem er per Kopf in den Winkel getroffen hatte, vollendete er noch einen wunderbaren Spielzug, der im Kopf des wunderbaren Mittelfeldlenkers Andrés Iniesta - von wem auch sonst? - entstanden und von Jordi Alba fortgeführt worden war. "Ich war da nur Zuschauer und musste den Ball nur noch hineinschieben", sagte Morata, der in elf Länderspielen fünf Tore erzielt hat.

"Die Anforderungen sind höher"

An der Zuschauerrolle haben sich in der Vergangenheit so manche Stürmer die Zähne ausgebissen. Nach Fernando Torres und David Villa, den Sturmspitzen der EM 2008 und der WM 2010, versuchten sich Stürmer wie Roberto Soldado, Álvaro Negredo und Fernando Llorente an der unabdingbaren Veredlung des Ballbesitzspiels, ebenso der eingebürgerte Brasilianer Diego Costa. Dann spielte Spanien mit einer so genannten falschen Neun, also ohne echten Mittelstürmer, zum Beispiel interpretiert von Cesc Fábregas.

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Der bleiche Regisseur des FC Barcelona ist mittlerweile 32 Jahre alt, aber weiterhin das Hirn der spanischen Nationalelf. Nun hat er auch noch zwei Stürmer, die seine Pässe veredeln.

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Einen schwierigen Stand haben Stürmer bei den Spaniern, weil ihr Spiel sich zumeist von dem in ihren Teams unterscheidet, beim FC Barcelona und Real Madrid spielen üblicherweise internationale Superstars. "Die Anforderungen sind höher: Wenn du einen Ball bekommst nach 30, 40 Pässen, muss er sitzen", sagt Morata. Spaniens Mittelfeld pflegt seine Spielzüge so lange zu kneten, dass die Stürmer in der gleichen Weise verzweifeln, wie der gegnerische Torwart entspannt in Trance verfällt.

Die Bewegungsmuster sind komplexer, es ist anders als in anderen Systemen nicht damit getan, auf Flanken zu warten. "Wenn wir in Ballbesitz sind, muss ich mit dem Rücken zum Tor stehen, um dem Spiel Tiefe zu geben, aber immer bereit sein, mich umzudrehen. Wenn wir verteidigen, muss ich mitarbeiten, um der Mannschaft Luft zu geben und ihr zu helfen, hinten herauszukommen. Es ist anders als bei Juventus", sagte Morata jüngst in einem Interview.

Das Spiel mit dem Rücken zum Tor hat er schon als Jugendlicher versucht zu lernen, der Vater, "mein schärfster Kritiker", schwärmte ihm immer wieder von Marco van Basten vor, dem niederländischen Europameister von 1988. Und auf Reisen schaut sich Morata immer wieder Videos von anderen Stürmern an. In Frankreich kommt ihm zugute, dass er im zweiten "neuen" Stürmer der Nationalelf, Nolito von Celta de Vigo, einen Partner und Freund gefunden hat. Beim 3:0 gegen die Türkei servierte ihm Nolito den Ball exakt auf den Kopf. "Wir verstehen uns wirklich gut, doch das gilt nicht nur für Nolito und mich, sondern für alle. Ich hatte immer gehört, dass in der Nationalelf gute Stimmung herrscht. Und es stimmt wirklich."

Eine Reihe von Spielern kennt er seit Jahren. Morata, der vor den Toren Madrids in Getafe geboren wurde, kam als 13-Jähriger zu Real Madrid und galt schon als Teenager als großes Talent. Doch die Superstar-Politik von Präsident Florentino Pérez zwang ihn ins Exil; an Cristiano Ronaldo, Karim Benzema, Gonzalo Higuaín und Gareth Bale war kein Vorbeikommen, obwohl Morata vielseitig verwendbar ist, er kann auch über die Flügel kommen. Nach zahlreichen Versprechungen, er würde seine Chance bei Real bekommen, wanderte er 2014 zu Juventus Turin ab, für 20 Millionen Euro. Er rächte sich kaum ein Jahr später, indem er das Tor schoss, das Juventus im Bernabéu-Stadion den Einzug ins Champions-League-Finale sicherte.

Für Pérez wäre Morata auch Innenpolitisch interessant

Und er bedauerte es: "Ich hätte lieber gegen ein deutsches oder ein englisches Team getroffen." Juventus Turin hat bereits mehrmals versucht, Real Madrid die Rückkaufklausel wieder abzunehmen, die Fortschritte Moratas waren augenscheinlich. Doch mit Angeboten von angeblich bis zu 25 Millionen Euro stieß Juventus in Madrid nur auf taube Ohren. Im Moment gilt als sicher, dass Real Madrid noch im diesen Sommer die Rückkauf-Option ziehen wird. Unklar ist aber, ob er dann wirklich bei Real Madrid bleibt oder an einen Premier-League-Klub gewinnbringend weitergereicht wird. Der FC Chelsea und der FC Arsenal sollen Interesse haben.

Innenpolitisch kann eine Rückkehr Moratas für Florentino Pérez interessant sein. Vor allem die älteren Vereinsmitglieder wollen möglichst viele Eigengewächse in der Mannschaft sehen, einige Präsidiumsmitglieder auch. In den Hausblättern Reals, in Marca und As, wird zunehmend gefragt, ob es wirklich sinnvoll ist, um Stürmer wie Bayern-Stürmer Robert Lewandowski zu buhlen, wenn Morata auf dem Markt - und billiger - ist.

Doch Florentino neigt in Turniersommern dazu abzuwarten. So hielt er es schon bei der WM 2014. Mit dem Uruguayer Luis Suárez hatte Real Madrid bereits einen unterschriftsreifen Vertrag ausgehandelt. Nachdem der Uruguayer Giorgio Chiellini in die Schulter biss, nahm Real wieder Abstand vom Transfer; Suárez heuerte beim FC Barcelona an. Klar ist: Sollte Morata bei der EM weiter treffen, wäre einer Rückkehr nach Madrid der Boden bereitet. Sollte er Torschützenkönig werden, würde er sogar Geschichte schreiben. Er war schon bei einer U19- und einer U21-EM bester Turnier-Goalgetter. In drei verschiedenen Alterskategorien hat das noch kein Stürmer geschafft.

© SZ vom 21.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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