Abfahrt bei der Ski-WM:Tag der offenen Münder

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"Wie im Traum": Jasmine Flury gewinnt in Méribel ihr zweites großes Rennen - passenderweise ist es die WM-Abfahrt. (Foto: Jeff Pachoud/AFP)

Wieder überrascht eine Außenseiterin: Die Schweizer Bergbauerntochter Jasmine Flury fährt auf der WM-Abfahrt in Méribel ins Licht. Kira Weidle wird nach fehlerloser Fahrt Achte - vielleicht gebremst von Sonne oder Wind.

Von Johannes Knuth, Méribel

Man musste wohl bei den Geschlagenen anfangen. Bei Sofia Goggia natürlich, der Italienerin, die einen Favoritenstatus zu diesen alpinen Ski-Weltmeisterschaften nach Frankreich geschleppt hatte, der so hoch war wie der Mont Blanc. Nun harrte sie im Ziel aus, die Augen unter der kinoleinwandgroßen Skibrille auf den Zielhang geheftet, wo sie gerade ein Tor verpasst hatte. Dann starrte sie auf die Anzeigetafel - als sei das ein böser Traum, aus dem der Wecker sie gleich herausreißen würde.

Oder auch Kira Weidle, die 26-Jährige vom SC Starnberg. Vor zwei Jahren hatte sie es bei der WM in Cortina d'Ampezzo zu Silber in der Abfahrt getragen, nun hatte sie sich noch ein bisschen mehr vorgenommen in ihrer Leib- und Magendisziplin. Stattdessen hallte ein langgezogener Schrei durch das Ziel in Méribel, als Weidle dort eintraf - das Gefühl, das ihr ihre Fahrt beschert hatte, war so gar nicht kompatibel mit dem achten Platz, den die Ergebnisliste für sie auswies.

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Und so landete man zwangsläufig bei der Siegerin. Auch Jasmine Flury, 29, stand am Samstag immer wieder der Mund offen, dazu rollten sehr, sehr viele Tränen die Wangen herab. Die Schweizerin hatte 2017 einen Super-G-Weltcup in St. Moritz gewonnen, vor einem Jahr stand sie noch einmal auf einem Weltcup-Podest, als Zweite der Abfahrt von Garmisch-Partenkirchen. Ansonsten fuhr sie meist im Sog der Besten. Nun rücken Weltmeisterschaften ja gerne mal die Außenseiter ins Licht, bei denen alles zusammenfließt in diesem einen Lauf, wie beim Kanadier James Crawford zuletzt im Super-G - aber konnte man das so einfach auf diesen Samstag übertragen, den Tag der offenen Münder?

Nicht nur Weidle rätselte später, welches Schauspiel sich da in der oberen Passage abgespielt hatte auf der "Roc de Fer". Goggia, die Slowenin Ilka Stuhec, die Österreicherin Mirjam Puchner, sie alle verloren viel Zeit in der flacheren Passage, wo sie sonst nie Zeit verlieren. Weidle gab sich große Mühe, dem Zufall nicht zu viel Mitwirkung zu unterstellen, aber so ehrlich müsse sie schon sein, sagte sie: Diejenigen, die als Erste in diese Abfahrt aufgebrochen waren, schienen nicht gerade benachteiligt gewesen zu sein. Flury war mit Startnummer zwei losgezogen, vier Hundertstelsekunden betrug ihr Guthaben auf die Österreicherin Nina Ortlieb, Tochter von Patrick Ortlieb, der 1992 in der Nachbarschaft in Val d'Isère zu Olympiagold gerast war. Von den Favoritinnen, die später dran waren, kam nur Corinne Suter um 12 Hundertstel heran, als Dritte.

War es der Wind? Die Sonne, die die Piste aufgeweicht hatte? Das vermochte Weidle nicht zu sagen, nur so viel: "Ich dachte, das gibt's nicht, das war wirklich eine gute, engagierte Fahrt." Im weiteren Verlauf hatte sie zumindest kaum Zeit auf die Siegerin verloren. Es war das einzige gute Gefühl, das sie aus der ersten WM-Woche am Ende heraustrug. Im Super-G war sie über einen Stein gesteuert und mit stumpfen Skiern chancenlos gewesen, nun eine richtige Fahrt zur offenkundig falschen Zeit.

"Ich dachte, das gibt's nicht, das war wirklich eine gute, engagierte Fahrt": Kira Weidle muss sich in ihrer Lieblingsdisziplin mit Platz acht zufriedengeben. (Foto: Daniel Goetzhaber/Gepa/Imago)

Das Etikett der Zufallssiegerin sollte man Flury aber auch nicht anhängen. Ihre Fahrt sei ihr schon sehr gut gelungen, versicherte sie später. Auch ist sie seit Jahren Mitglied einer starken Schweizer Auswahl in den schnellen Disziplinen, mit Priska Nufer, Joana Hählen und Suter. Flury war sogar die Erste aus dieser Gemeinschaft, der 2017 ein großer Erfolg gelang, mit dem Triumph im Super-G von St. Moritz. Es war dann aber erst mal Suter, die große Erfolge sammelte, WM-Gold in der Abfahrt von Cortina, vor einem Jahr Olympiagold in Peking. Flury tat sich schwer, ihre guten Trainingsläufe im Rennen zu zeigen, ein Klassiker des Berufssports. Aber das ist halt auch eine Qualität: nicht den Mut zu verlieren, wenn vieles gegen einen spricht.

Flury wuchs in Monstein auf, 200 Einwohner, da wirkte das benachbarte Davos wie eine Großstadt, hat sie der Neuen Zürcher Zeitung einmal erzählt. Es gab nicht einmal einen Skilift am Ort, nur eine Turnhalle, eine Sandgrube hinter der Kirche und viele Wege, auf denen man per Fahrrad ins Umland strampeln konnte. Irgendwann pflanzte sie sich den Gedanken in den Kopf, es im Skisport zu schaffen, obwohl sie die Aufnahmeprüfung am Leistungszentrum in Davos nicht schaffte, nie eine Sportschule besuchte. Sie entschied sich trotzdem gegen eine Lehre und für den Umweg durch niederklassige Verbandskader, durch Rehas und Aufbautraining. Bis zu diesem einen Tag im Licht.

So erinnerte der Samstag auch daran, dass es sie noch immer gibt: die Bergbauerntöchter und -söhne, in deren Dörfern kaum mehr als ein Dutzend Menschen leben (wie im Fall des Schweizers Daniel Yule) oder deren Großväter den einzigen Skilift am Ort bauten (wie im Fall von Beat Feuz) - auch wenn der Klimawandel diese kleinen Biotope immer häufiger austrocknet.

Und vermutlich hatte sich diese wilde Abfahrt schon deshalb gelohnt, weil nun auch diese Episoden aus der Vita der Siegerin herausgekehrt wurden: wie Flurys Vater Georg in den Siebzigerjahren nach Washington zog, im Hotel "Watergate" als Zuckerbäcker arbeitete und dort eine dreistöckige Geburtstagstorte buk für Walter Mondale, den Vize des US-Präsidenten Jimmy Carter. Monstein bei Davos sagte Georg Flury dann aber offenbar doch mehr zu, er übernahm dort den Bauernhof der Eltern. "Man sieht das Team, die Familie, die mich all die Jahre unterstützt haben", sagte Jasmine Flury am Samstag, das sei das Beste: "Dass ich ihnen jetzt etwas zurückgeben kann."

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