Abstoßen, Schwung holen, in die erste steile Passage eintauchen, dann merkte Kira Weidle schon, dass etwas nicht stimmte. Ihr linker Ski rutschte ständig weg, bei fast jedem Lenkmanöver - ein bescheidenes Gefühl, wenn man mit 100 Sachen über eine Piste rauscht, auf der schlingernde Skier in etwa so nützlich sind wie eine Gabel beim Kohlebergbau. Weidle hatte später auch ein paar griffige Vergleiche parat: Sie habe sich gefühlt, als sei ihr beim Autofahren ständig das Heck ausgebrochen, wie beim Aquaplaning, wobei in Méribel am Mittwoch doch wieder die Sonne auf den Hang brannte. Wenn bei einer alpinen Ski-WM von ausbrechenden Hecks und Aquaplaning die Rede ist, ist das jedenfalls kein so gutes Zeichen.
Kira Weidle war nicht als große Favoritin in diesen Super-G bei den Weltmeisterschaften in Méribel und Courchevel gezogen, aber die Zeiten, in denen sie in dieser Disziplin den unteren Teil der Ergebnisliste auffüllte, hat sie lange hinter sich. "Das ist ein WM-Rennen, da gibt's Medaillen, ich gehe mit allem rein, was ich habe", hatte sie zuletzt versprochen.
Sie hatte die branchenüblichen Gesetze einer Großveranstaltung zitiert ("immer Überraschungen möglich"), hatte im Archiv der Sportgeschichte gewühlt und den Riesenslalom der Winterspiele 2010 herausgefischt: Weidles langjährige Teamkollegin Viktoria Rebensburg war damals ohne Sieg im Weltcup angereist, am Ende war sie Olympiasiegerin. Und nun?
Erlebte Weidle eine Überraschung der ernüchternden Art. Die 26-Jährige fuhr kurz nach dem Start über ein Hindernis, über einen Stein vielleicht, der vom Schnee verdeckt war. "Es ist halt einfach unglücklich gelaufen", sagte sie, da könne man niemandem Schuld aufladen. "Zu lange darf ich mich damit gar nicht beschäftigen", beschloss sie, was natürlich einen kleinen Spalt für Spekulationen offenließ: Was, wenn diese Aufarbeitung vielleicht nicht ganz so gut gelingt?
Weidle hat sich früh Richtung Weltspitze aufgemacht, sie debütierte kurz vor ihrem 20. Geburtstag im Weltcup, aber am leichtesten fiel ihr zunächst die Abfahrt, auch wenn das paradox anmutet. Die Abfahrt ist die Königsdisziplin, es geht um Tempo und Überwindung, nur: Einer Abfahrt ist immer mindestens eine Trainingsfahrt vorgeschaltet, es ist eine Überwindungsarbeit in Etappen.
Im Super-G, dem Hybrid aus Kurvenfahrten und Tempo, gibt es das nicht, der erste Versuch muss sitzen, gleich im Wettkampf. Da fehlte Weidle lange "der Mut, das Selbstvertrauen, dass ich wirklich die engste Linie nehme", sagte sie. "Vielleicht denke ich manchmal ein bisschen zu viel nach", es sei wohl auch Persönlichkeitssache. Frei übersetzt: Weidle ist eher keine, die sofort einfach drauflosbrennt.
Weidle ist eher keine, die sofort einfach drauflosbrennt
Andererseits muss die verhaltene Attacke nicht die dümmste Idee sein in einem Gewerbe, in dem die Fahrerinnen in den vergangenen Wintern zeitweise Knieschäden erlitten wie andere einen Winterschnupfen. Die vergangenen beiden Saisons im Super-G lieferten jedenfalls ermutigende Indizien, vor allem in diesem Winter. Weidle wurde 12., 7., 18. und 9., wer konstant gut ist, kriegt wiederum bessere Startnummern zugeteilt, und aufgefrischtes Selbstvertrauen gibt es noch einmal umsonst dazu.
So gut habe sie sich am Mittwoch gefühlt auf diesem "richtig schönen Hang" und dem kalten und trockenen Untergrund, auf dem sich die Skier schon bei kleinen Lenkmanövern drehen lassen. "Ich war echt mega motiviert heute", sagte sie, "aber es sollte mal wieder nicht sein im Super-G". Und das war dann eine Botschaft, die durchaus ihre Tücken hatte. Denn wer sich einredet, dass es einfach nicht sein soll mit einer Disziplin, der kann sich rasch ein Bild in den Kopf setzen - das wiederum beeinflussen kann, wie man ins nächste Abenteuer im Super-G aufbricht.
Bleibt abzuwarten, was das auslöst: dass es nicht die Konkurrenz oder Unvermögen war, sondern ein Schlenker des Schicksals, der Weidle diesmal eine Chance entrissen hatte. Andererseits hat sie auch schon oft gezeigt, dass sie solche Zweifel abstreifen kann; dass der Trubel einer WM eher ihren Blick dafür schärft, was es zu gewinnen gibt statt zu verlieren. Die Abfahrt der Frauen am Samstag ist jedenfalls ein neues Spiel mit noch größeren Ambitionen: Natürlich wolle sie "mal ganz oben stehen", sagte Weidle zuletzt, im Weltcup oder bei einem Großevent. Eine Silbermedaille besitze sie ja schon, von der WM-Abfahrt vor zwei Jahren.
Mindestens genauso spannend ist gerade die Frage, wie Weidles Speed-Kollegen im Deutschen Skiverband ihre Form in den nächsten Tagen verwalten werden. "Wir sind hier, um alle zu schlagen, und wenn alles zusammenkommt, können wir das auch", verkündete Andreas Sander vor dem Super-G am Donnerstag. Zuletzt war nur recht wenig zusammengekommen, ein paar Lichtblicke ausgenommen - das Fundament des Selbstvertrauens, auf dem etwa Sander und Romed Baumann vor zwei Jahren ihre Silberfahrten errichteten, wirkte jedenfalls nicht ganz so stabil. Und dann ist da ja noch die Sache mit Thomas Dreßen.
Der Kitzbühel-Sieger von 2018 war Ende vergangene Woche im Training gestürzt; rechtes Knie und linke Schulter, die zuletzt immer wieder angeschlagen waren, sind nun erneut geprellt. Zuletzt musste er sich auch noch im Teamhotel isolieren, weil er an einem Magen-Darm-Virus litt. Das erste Training am Mittwoch bestritt er noch geschwächt, in langer Hose und Winterjacke - wenn auch immer noch mit 120 Sachen. Die Skier blieben offenbar auch heile.