Marcel Hirscher:Mit der Klinge zwischen den Zähnen

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Auf scharfer Klinge: Marcel Hirscher kreuzt die Ziellinie beim Parallelslalom in Alta Badia artistisch auf dem Innenski. (Foto: Alberto Pizzoli/AFP)
  • Der Österreicher Marcel Hirscher ist auch im neuen Winter der Skirennfahrer, den es zu besiegen gilt.
  • Doch schon jetzt wirkt die Konkurrenz ratloser denn je.
  • "Marcel ist im Riesenslalom unschlagbar", sagt der Norweger Henrik Kristoffersen.

Von Johannes Knuth, Alta Badia

Ein Gespräch im vergangenen Oktober, Marcel Hirscher hatte in die Alte Saline in Hallein geladen; es ging ums Aufhören, Weitermachen und über das, was einmal bleiben soll, wenn der Skirennfahrer Marcel Hirscher nicht mehr Skirennen fährt. Irgendwann kam dann die Rede auf Bode Miller, den Freigeist aus den USA. Miller hat sich auch deshalb ins Gedächtnis vieler Beobachter eingebrannt, weil er während seiner Zeit auf der alpinen Tournee nie viel übrig hatte für Medaillen und Statistiken - er erfand lieber eine wagemutige Fahrlinie, die sich mit keiner handelsüblichen Fahrt vergleichen ließ.

Und Hirscher? "Mir war schon immer wichtig zu zeigen, dass ich ein Racer bin", sagte er. Auch wenn er dieses Motiv die Jahre davor etwas vernachlässigt hatte, als er lieber das Maximum an Punkten für die Gesamtwertung zusammenkratzte, anstatt die maximal schnellste Fahrt zu erschaffen. Im vergangenen Winter sei er dann aber schon oft wieder beseelt gewesen von diesem Gefühl, dass er sich nach einem Lauf sagte: "Boah, das war jetzt richtig mit der Klinge zwischen den Zähnen." Das, fügte Hirscher an, "bleibt den Menschen hoffentlich in Erinnerung".

Sechs alpine Rennwochenenden später kann man gefahrlos festhalten: Marcel Hirscher aus Annaberg im Salzburger Land ist auch im noch jungen Winter eine der kompetentesten Fachkräfte für erinnerungswürdige Skitage. Der 29-Jährige führte im Riesenslalom in Alta Badia nach dem ersten Lauf mit einem Guthaben von einer Sekunde, nach dem zweiten waren es unwirkliche 2,53 - die Konkurrenz im Ziel verfolgte die Fahrt mit andächtigem Staunen, als bezeuge sie gerade eine totale Sonnenfinsternis.

Hirscher scheint dem Wettstreit entwachsen

Hirscher gab später zu Protokoll, er habe sich bei seinem Fabellauf gar nicht so fabelhaft gefühlt, vor ihm hatten sich alle an der Zeit des Franzosen Thomas Fanara abgemüht. "Ich habe mir gesagt: Fahr, fahr, fahr! Weil ich dachte, dass das ein sehr enger Lauf wird", sagte Hirscher. Gut, räumte er ein, das Gefühl habe wohl ein wenig getrogen. Der große Vorsprung habe ihn jedenfalls sehr überrascht ("Bist du narrisch?"); aber "alles in allem" war das dann schon "einer der besten Tage in meiner Karriere". Hirschers Vita, dies zum Abgleich, hält unter anderem bereit: sieben Siege im Gesamtweltcup in Serie, zwei Olympiasiege, sechs WM-Goldmedaillen.

Normalerweise finden sich im alpinen Skisport der Neuzeit mit jedem Winter noch mehr Mitbewerber in der Weltspitze ein - Stichwort: Klinge, Zähne -, aber Hirscher ist derzeit sogar diesem Wettstreit entwachsen, vor allem im Riesenslalom. Das letzte Mal, als er in dieser Disziplin nicht auf einem Weltcup-Podium stand, war im März 2016. Der Sieg am Sonntag war Nummer 30 im Riesenslalom, nur der Schwede Ingemar Stenmark war besser (46). Weil Hirscher am Montagabend auch den Parallel-Riesenslalom in Badia gewann (bei dem Stefan Luitz als Fünfter überzeugte), hat er nun auch zu Annemarie Moser-Prölls 62 Weltcup-Siegen aufgeschlossen; vor ihm liegen nur noch Lindsey Vonn (82) und natürlich Stenmark (86). Es wirkt manchmal fast ermüdend, aber Hirscher drückt mit der Statistik auch das aus, was Bode Miller einst mit seiner Fahrlinie tat: Mit gewöhnlichen Referenzen lässt sich das alles nur noch schwer vergleichen.

Seine Kraftzelle, die ist seit Jahren die gleiche: Da ist das kleine Team, das nur Hirscher zuarbeitet, mit Trainern, Physiotherapeuten, Servicekräften. Da ist seine enorme Physis (was früher auch Dopingfragen provozierte, die Hirscher vehement verneinte). Und da ist sein oft manischer Drang, Ski, Bindung, Platte und Schuhe immer wieder neu aufeinander abzustimmen, wie ein Pilot in der Formel 1. In Alta Badia griff er vor dem zweiten Lauf zu einem neuen Skimodell seines Ausrüsters, obwohl er mit dem alten im ersten Lauf allen davongerauscht war - aber am Nachmittag, zum zweiten Lauf, hatten sich die Verhältnisse ja wieder geändert, Schnee, Wind, Sonnenstand, vermutlich auch die Konstellation der Sternzeichen. Hinzu kommt, dass Hirschers Skitechnik nahezu umgehend mit jedem neuen Set-up kompatibel ist. "Ich hab ein Schema einprogrammiert, das fahre ich so gut durch, wie ein menschlicher Computer funktionieren kann", hatte er vor der Saison gesagt: "Und an dieses technische Schema versuche ich alles Drumherum anzupassen."

Das andere ist sein Matchplan, den Hirscher schon im Oktober angesprochen hatte. Die Zeit des Gewinnen-Müssens und Taktierens sei vorbei, jetzt sei die Zeit des Gewinnen-Könnens. "Ich war im Sommer ja doch recht knapp davor, dass ich aufhöre", sagte er in Alta Badia, "von daher ist jedes Rennen jetzt schon auch eine Zugabe, aus dem ich das Maximum rausholen will." Ein bisschen wie einst Bode Miller. Wer so viel gewonnen hat wie Hirscher, der seit Oktober Vater eines Sohnes ist, blickt mit gelassenerem Auge auf den Wettstreit, auf die gletscherhohen Erwartungen in der Heimat.

"Mir ist das alles nicht egal", sagte er, "aber wenn ich ausfalle, dann falle ich halt aus, ja mei. Das ist schon befreiender, das macht mehr Spaß." Er riskiere dabei natürlich, dass ihm irgendwann mal Punkte für die Gesamtwertung entgleiten, derzeit verhält es sich mit Hirschers Klinge-zwischen-den-Zähnen-Fahrten aber eher so: Je mehr er an der Taktik spart, desto konstanter entfernt er sich vom Rest.

In Alta Badia sah das dann so aus: Hirscher hielt die scharfen Kanten der Ski fast immer im Eis, als seien vor ihm Gleise verlegt, die er nur hinunterrauschen musste. Die anderen rutschten, drifteten, rangen mit ihren Kräften auf der Gran-Risa-Piste, die so steil gen Himmel wächst, dass man von ihrem Gipfel gut und gerne ein Klippenspringen veranstalten könnte. Hoffnungen? Macht sich die Konkurrenz nicht mehr, zumindest nicht vor dem Riesenslalom am Mittwoch und dem Slalom am Donnerstag in Saalbach-Hinterglemm. "So wie wir anderen gerade fahren", sagte der Norweger Henrik Kristoffersen, "ist Marcel im Riesenslalom unschlagbar."

Auch, weil die anderen gerade nur bedingt der Maßstab sind, an dem Hirscher sich misst.

© SZ vom 19.12.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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