Serie A:Linienbus auf Titelkurs

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Mausert sich als der Mann für die wichtigen Tore: Milan-Stürmer Olivier Giroud. (Foto: Alberto Lingria/Imago)

Der AC Mailand glaubt nach einem 1:0-Erfolg beim SSC Neapel an den Scudetto - auch dank der Treffer des französischen Routiniers Olivier Giroud.

Von Thomas Hürner, Neapel/München

Ein Fußballtrikot ist nur ein Stück Stoff, heutzutage zwar durchlässig für Körpersäfte und federleicht, doch am Ende bleibt es ebendies: ein Stück Stoff. In Italien sehen die Leute das anders, dort gehören Trikots zur emotionalen Erbmasse eines Klubs, sie werden überdies zweckentfremdet als eine Art überziehbare Glaskugel. Als ließe sich aus der Vergangenheit auch die Zukunft lesen.

Eine Dekade lang lastete bei der AC Milan ein Fluch auf dem Leibchen mit der Rückennummer neun, so lautete jedenfalls die Erzählung unter Anhängern und Kommentatoren. Zehn Spieler trugen es in diesem Zeitraum, darunter begabte Torjäger wie Fernando Torres, Gonzalo Higuaín und André Silva. Sie alle schossen vornehmlich daneben, und das war auch der Grund, weshalb der Stürmer Olivier Giroud bei Dienstantritt erst einmal Position beziehen musste zu diesem bösen Zauber: Ob er, Giroud, sich wirklich für Nummer neun entscheiden wolle bei den Rossoneri?

Na klar - er habe gehört, dass "irgendwas Spezielles" mit diesem Trikot vor sich gehe, antwortete der Franzose. "Aber das ist mir egal. Ich bin nicht abergläubisch."

An der Tabellenspitze herrscht dichtes Gedränge: Milan, Inter und Napoli glauben an den Titel

Seit vergangenem Sommer steht Giroud, 35, bei Milan unter Vertrag, niemand hatte noch sportliche Großtaten von ihm erwartet. Zu alt, zu behäbig, zu passiv für den modernen Fußball. Und nun: Giroud, Giroud, Giroud, auf den Titelseiten aller italienischer Sportgazzetten, zum zweiten Mal in nur vier Wochen. Giroud war es, der mit einem Doppelpack die Wendung im Stadtderby gegen Inter herstellte; das so überraschende wie triumphale 2:1 brachte Milan überhaupt erst wieder in Schlagdistanz zur Tabellenspitze.

Und am Sonntagabend war es dann erneut Giroud, der einem direkten Konkurrenten den entscheidenden Schlag versetzte. Milan siegte 1:0 beim SSC Neapel, dank eines Treffers des Franzosen, den er in geradezu patentwürdiger Manier erzielte: Im richtigen Moment stahl er sich aus dem Abseits heraus, hinter den wuchtigen Napoli-Verteidiger Kalidou Koulibaly, in stiller Antizipation eines Querschlägers seines Mitspielers Davide Calabria - und diesem hielt Giroud seinen Fuß entgegen, ganz leicht nur, um dem Ball den Touch ins Tor zu geben. "Ich versuche, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein", erklärte der Franzose hernach, und in Italien ist man sich gerade nicht ganz sicher, ob er damit nur seine Positionierung auf dem Spielfeld oder das große Ganze meinte.

Die Tuttosport rief zum Beispiel etwas voreilig aus: "Giroud Scudetto!" In der Tat stehen die Chancen nicht schlecht, dass der Unterschätzte in dieser Saison zum Meistermacher werden könnte. In die italienische Serie A ist viel Bewegung gekommen, jedenfalls gemessen am Maßstab der deutschen Bundesliga, in der die Bayern mal wieder recht mühelos vorne weg galoppieren. An der Spitze drängeln sich drei Klubs mit knappem Abstand. Milan führt mit einem Punkt vor Inter, das noch ein Nachholspiel absolvieren darf, der Vorsprung vor den Neapolitanern wurde mit dem Erfolg vom Sonntag auf drei Zähler geschraubt. Entschieden ist noch lange nichts, doch die Geschichte lehrt: Am Ende eines Marathons ist die Psychologie entscheidend, und was ist erbaulicher als Erfolge im Duell mit den unmittelbaren Rivalen?

Milan sorgte für ein giftiges Spiel - und raubte Napoli so die Spielfreude

Im Stadio Diego Armando Maradona hat Milan seinen Anspruch auf den ersten Meistertitel seit 2011 mit einer imposanten Leistung bekräftigt. Es war eine Partie, in der gekratzt und gebissen und gegrätscht wurde, es war auch eine bewusst gewählte Strategie der Gäste: Milan raubte so den neapolitanischen Kurzpass-Stafetten den Raum, das Tempo. In Italien ist Schönheit von nachrangiger Bedeutung, wenn's drauf ankommt, dann geben alle gern den Spielverderber. Anders ließ sich eine kleine Wutrede des Napoli-Trainers und Fußballästheten Luciano Spalletti kaum interpretieren: "Wenn du dem Druck nicht standhalten kannst", sagte er mit Blick auf seine Spieler, "dann drücken dich eben jene zur Seite, die es können."

Zur richtigen Zeit am richtigen Ort und mit der richtigen Fußhaltung: Olivier Giroud lenkt den Ball ins neapolitanische Netz. (Foto: Francesco Pecoraro/Getty Images)

Nun, Milan konnte. Und das, obwohl die Mannschaft von Trainer Stefano Pioli durchaus einen attraktiven und flotten Ball spielt, wenn sie es für geboten hält. Einen "intensiven und aggressiven Stil" nennt Pioli das, als Inspiration diente ihm der FC Bayern. Vor zwei Jahren stellte der Coach ein paar Mitarbeiter nur für das Studium des Münchner Fußballs ab, sie sollten die Lehre der frühen Ballattacken und Tempoangriffe auf ihre Kompatibilität in Mailand prüfen. Nach einer Dekade der Erfolg- und Orientierungslosigkeit, so Pioli, habe Milan wieder eine Identität gebraucht. Und dazu gehört auch: Standfestigkeit, wenn der Wind von der Seite bläst.

Torjäger Giroud glaubt an den ersten Mailänder Scudetto seit mehr als zehn Jahren

Das fußballerische Resultat ist zwar eine Nummer kleiner als in München, doch es kann sich sehen lassen. Insbesondere der junge Spielmacher Sandro Tonali beschleunigt und beruhigt das Spiel nach Belieben, er gilt in Italien bereits als der Thronfolger von Andrea Pirlo. Die höchste Dichte an exquisiten Akteuren gibt es aber im Angriff, dort belebt der Konkurrenzkampf sichtbar das Geschäft: Zlatan Ibrahimovic kam nach Verletzung am Sonntag nur von der Bank, stattdessen begannen der pfeilschnelle und wendige Rafael Leão sowie der trickreiche Junior Messias - und eben der perfekt frisierte Kraftprotz Giroud.

Im Spitzenspiel konnte er nicht ganz verbergen, dass die Zeit auch an ihm nagt, bei jedem Wendemanöver wirkte der Stürmer, als müsse sich ein alter Linienbus durch die engen Gassen Neapels schlängeln. Doch Tore sind zeitlos, ebenso wie Selbstbewusstsein und Zielstrebigkeit: "Natürlich glauben wir an den Scudetto", sagte Giroud, als er nach den Mailänder Titelaussichten gefragt wurde. In den vergangenen zehn Jahren hatte sich das kein Neuner in einem rot-schwarzen Trikot auszusprechen getraut.

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