Schwimm-WM:Die Nacht des Springbocks

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Ariarne Titmus bei ihrem Goldrennen über 400 Meter Freistil in Fukuoka. (Foto: Francois-Xavier Marit/AFP)

Eine Weltrekordlerin, eine siebenmalige Olympiasiegerin und eine Doppel-Weltmeisterin: Das 400-Meter-Rennen in Fukuoka stellt zu Beginn der Beckenwettbewerbe vieles in den Schatten.

Von Sebastian Winter, Fukuoka

Mehr ging kaum an diesem Sonntagabend in Fukuokas gut gefüllter Marine Messe, diesem riesigen Betonbunker mit wellenförmigem Dach, der zwar direkt am Meer liegt, allerdings wenig idyllisch eingebettet ist zwischen Stadtautobahn und Hafen-Fährterminal. Das japanische Publikum lärmte - und befeuerte das Klischee, einigermaßen sportverrückt zu sein.

Aber es lohnte sich ja auch, hinunterzuschauen in den 50 Meter langen, extra für diese Schwimm-Weltmeisterschaft in die Halle hineingebauten Pool. Denn dort warteten um 20.32 Uhr Ortszeit auf Bahn drei, vier und fünf drei Frauen aufs Startsignal, die ein mit Erwartungen überfrachtetes 400-Meter-Freistil-Rennen vor sich hatten; einen Wettkampf der Superlative, wenn man die Erfolge seiner Protagonistinnen zusammenrechnet.

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Kommentar von Sebastian Winter

Darf man vorstellen: Summer McIntosh aus Kanada, erst 16 Jahre alt, aber schon Doppel-Weltmeisterin und - bisherige - Weltrekordhalterin. Zu ihrer Rechten Katie Ledecky, die mit kaum mehr greifbaren 25 WM- und Olympiatiteln dekorierte US-Amerikanerin. Schließlich Ariarne Titmus, die australische Doppel-Olympiasiegerin und Doppel-Weltmeisterin. Direkt nebendran, auf Bahn sechs: Isabel Gose, die im Vorlauf deutschen Rekord geschwommen war und danach sagte: "Ich habe extrem Respekt vor den Dreien. Was die da ins Becken zaubern, das schaffen nicht viele Frauen. Es ist eine Riesenehre, dass ich mit dabei sein kann."

Aus dem erwarteten Dreikampf wurde dann ein beeindruckendes Solo - von Titmus. Am Ende lag sie fast dreieinhalb Sekunden vor Ledecky, die lange Zeit nur auf Platz vier lag, sich aber noch auf Platz zwei kämpfte. Nicht nur das: Titmus holte sich in 3:55,38 Minuten auch ihren Weltrekord zurück, den ihr McIntosh erst vor vier Monaten genommen hatte. Für diese Leistung verdiente sie sich zusätzlich 30 000 Dollar, die für globale Bestmarken in Fukuoka ausgelobt sind. Bronze gewann, noch vor der am Ende kraftlosen McIntosh, die Neuseeländerin Erika Fairweather. Und Gose? Die 21-Jährige wurde am Ende abgeschlagen Siebte.

Katie Ledecky, Ariarne Titmus und die Neuseeländerin Erika Fairweather (von links) bei der Medaillenzeremonie. (Foto: Stefan Wermuth/Reuters)

"Ich konnte befreit schwimmen, furchtlos ", sagte Titmus, nachdem sie aus dem Becken gestiegen war: "Jedes Mal, bevor ich ins Wasser tauche, sehe ich dieses Tattoo auf meinem Fußrücken." Genau dieses Wort, "fearless", furchtlos, hat sie sich dort in Schnörkelschrift stechen lassen, nachdem sie bei den Olympischen Spielen in Japan zweimal Gold gewonnen hatte.

Es ging in diesem Rennen auch um Gewichte, die auf diesem Frauen-Trio lasten. Titmus hatte die WM in Budapest vor einem Jahr ausgelassen, weil sie, wie sie vor ein paar Tagen erzählte, auch in mentaler Hinsicht eine Pause gebraucht habe. Sie habe sich nach ihrem Olympiasieg von Tokio "ein wenig vom Druck befreien wollen. Ich wollte einfach Abstand nehmen, einmal andere Interessen entwickeln, das hat auch meinem Kopf geholfen". Sie hat, im Vergleich zu McIntosh, auch ein paar Tausend Trainingskilometer mehr in den Beinen. Sie ist dem ständigen Kampf gegen die Uhr also schon weitaus länger ausgesetzt. Nun fühlt sie sich wieder bereit, für Japan sowieso, wie man nun gesehen hat, nach ihrer vierjährigen WM-Auszeit. Aber auch für die Olympischen Spiele 2024 in Paris.

Dieses Rennen war unzweifelhaft ein Schauspiel der Generationen

Auch Ledecky weiß um die Last der äußeren und inneren Erwartungen. Andererseits ist sie, und das gehört wohl zum Wesen der erfolgreichsten Schwimmerin, noch immer wissbegierig. Sie habe während der Pandemie vieles über sich gelernt, auch was Resilienz angeht, und einige mentale Dinge verbessert. Das Wichtigste sei doch, eine vernünftige Balance im Leben zu finden, sagte Ledecky vergangene Woche. Sie kam dort noch auf einen anderen Punkt zu sprechen: "Ich bin jemand, der das Lächeln liebt, mal einen Witz macht und nicht nur das ernste Gesicht hinter den Startblocks sieht." Am Sonntagabend gab sie mit eher ernstem Gesicht zu, "momentan nicht an die Zeiten heranzukommen", die jetzt Titmus und zuvor McIntosh bei ihren Weltrekorden geschwommen sind.

Dieses Rennen war unzweifelhaft ein Schauspiel der Generationen: Ledecky, 26, ist schon im eher reifen Schwimmerinnen-Alter, was sie nicht davon abhält, über einen Start bei den Olympischen Heimspielen 2028 in Los Angeles nachzudenken. Titmus, 22, ist im vielleicht besten Schwimmerinnen-Alter, und sie schwamm voller Bewusstsein, vielleicht die erholteste des Trios zu sein. Voller Vorfreude sagte sie vor dem Finale: "Drei Frauen, die alle innerhalb von 18 Monaten den Weltrekord der jeweils anderen erobert haben? Das wird eine gute Show." Und sie zog einen Vergleich zum Tierreich, als sie das Wesen der Strecke beschreiben sollte: "Man muss über die 400 Meter schnell wie ein Springbock sein, andererseits taktisch gut."

Enttäuscht auf Platz vier: Summer McIntosh. (Foto: Clive Rose/Getty Images)

Und McIntosh selbst, die erst 16-Jährige? Hat noch keinen Führerschein - aber auch keine Zahnspange mehr im Mund, worüber sie sehr froh sein dürfte. "Water meets the future", das Wasser begegnet der Zukunft, so lautet das WM-Motto. Es trifft auf kaum jemanden besser zu als auf diesen umschwärmten Teenager, der nun vor allem enttäuscht sein dürfte - über die verpasste Medaille und den entrissenen Weltrekord.

Zugleich eint diese drei Frauen der Respekt voreinander, man konnte das vor dem Beginn dieser Titelkämpfe an vielen Aussagen ablesen. Natürlich kreisten die Fragen fast nur darum, wie groß die Vorfreude auf diesen Abend ist, was sie voneinander halten, wie gut sie sich kennen. Die wohl erhabenste Antwort kam von Titmus, die über McIntosh sagte: "Ich kenne Summer nicht allzu gut. Aber bei allem, was ich von ihr gesehen habe, erinnert sie mich sehr stark an mich selbst, als ich in ihrem Alter war. Sie wirkt komplett furchtlos, das ist nicht einfach mit 16." Wieder dieses Wort: furchtlos. Man muss das auch sein, wenn man auf der Weltbühne des Schwimmens bestehen will. Summer selbst sagte: "Ich spüre nicht wirklich äußeren Druck." Im Rennen sah das diesmal anders aus. Und den inneren Druck, den spüren die Schwimmerinnen auf diesem Niveau ohnehin.

Wieder steht nun das Gold im Vordergrund, der neue Weltrekord sowieso, wie immer in jenen Sportarten, in denen die Stoppuhren über allem schweben. Der Springbock war bei seinem Comeback eben schneller als alle anderen. Aber in Wahrheit hat dieses Finale noch eine zweite Ebene gehabt. Weil sich dort drei Frauen, die so vieles gewonnen haben, voller Wertschätzung begegneten.

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