Es gibt ein sehr schön klingendes Wort in der japanischen Sprache, welches das Waterloo des Florian Wellbrock am Samstag in Fukuoka auf den Punkt bringt: zanpei suru heißt es, frei übersetzt: zerschmettert werden. Und Wellbrock wurde wahrhaft zerschmettert, von der Konkurrenz, von seinen unerfüllten Hoffnungen, von der Wucht dieses Ergebnisses: 20. Platz. Im Vorlauf über 1500 Meter Freistil. Auf der Strecke, auf der er bis zum WM-Finale die Weltjahresbestzeit hielt - und auf der er (inklusive Kurzbahn) je zweimal Weltmeister und Europameister wurde. Wellbrock fasste sich nach dem Rennen an den Kopf. Danach flüchtete er aus der Halle. Einen halben Tag später kam er zurück und sagte: "Der Tag heute fühlt sich ein bisschen surreal an. Wir können uns das noch nicht so erklären."
Wie soll man auch die wohl schwerste, weil so erdrutschartig klare Niederlage seines Lebens deuten nach dem goldenen Beginn dieser Weltmeisterschaften? In der Bucht vor Fukuoka hatte Wellbrock zu Beginn Gold über zehn und fünf Kilometer gewonnen. Der 25-Jährige wollte dann seine Topform ins Becken übertragen, doch schon im Vorlauf über 800 Meter schied er aus - wenn auch nur um einen Wimpernschlag von sieben Hundertstelsekunden. "Da konnte man es sich noch schönreden", sagte Wellbrock offen.
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Nun, an diesem besonderen Samstag (an dem in Fukuoka drei Weltrekorde purzelten, aufgestellt von den Branchengrößen Ruta Meilutyte und Sarah Sjöström sowie der australischen Mixed-Staffel), gelang das Schönreden nicht mehr: Wellbrock lag am Ende mehr als 16 Sekunden hinter dem Finaleinzug zurück. 16 Sekunden! Währenddessen hatten sich seine Magdeburger Trainingspartner Lukas Märtens und Mykhailo Romantschuk sicher qualifiziert. Am Sonntag wurden sie im Finale Fünfter und Siebter, Ahmed Hafnaoui aus Tunesien gewann das Rennen in 14:31,54 Minuten.
"Nach 1100 Metern bin ich aus meiner Trance aufgewacht und dachte, was passiert hier eigentlich grade."
"Der mentale Druck, auch von außen, war enorm hoch, auch nach dem Vorlauf-Aus über 800 Meter", sagte Wellbrocks Heim- und Bundestrainer Bernd Berkhahn: "Es ist dann schwer, gegen diese Winde anzukämpfen, seine Form wiederzufinden, seine Zweifel zu bekämpfen, all diese Dinge. Er hat die Kurve diesmal nicht bekommen." Bis zur 400-Meter-Marke lief es noch gut für Wellbrock, nach 500 Metern sei es "wahnsinnig schwer" geworden, nach 900 Metern habe er gemerkt, dass es nicht reicht. Er sei ja immer im Tunnel bei diesen Rennen, voller Adrenalin. Aber: "Nach 1100 Metern bin ich aus meiner Trance aufgewacht und dachte, was passiert hier eigentlich grade. Das kann ja nicht die Realität sein. Irgendwann schaltet man auch mental ab. Das ist schon bitter und tut im Rennen wahnsinnig weh."
Wellbrock liebt das Sich-Duellieren mit anderen. Auch wegen seines Ehrgeizes und dank der Disziplin, die man in diesem Trainingshöllensport haben muss, ist er zum besten Langstreckenschwimmer der Welt emporgestiegen. Im vergangenen Jahr gewann er bei der WM in Budapest fünf Medaillen, darunter Silber über 800 und Bronze über 1500 Meter im Becken. Der letzte so erfolgreiche Deutsche war Michael Groß, das war 1982.
Wellbrock steckte sich dann mit Corona an, wie so viele Schwimmer, die aus Budapest nach Hause zurückkehrten. Die EM in Rom brach er vorzeitig entkräftet ab. Er hatte auch dort versucht, mit den Konkurrenten vom Startblock weg ins Gefecht zu gehen, Leine an Leine, Bahn auf Bahn. Doch er war noch nicht so weit.
Die aktuelle Saison lief bislang gut, alles war im Soll, und dann, Ende April in Berlin: 14:34,89 Minuten über 1500 Meter Freistil. Deutscher Rekord. Weltjahresbestzeit. Ein Ausrufezeichen. Und weil Wellbrock wusste, dass es in Fukuoka so heiß und feucht werden würde, dass einem schon nach fünf Minuten Spaziergang der Schweiß aus allen Poren trieft, machte er Außergewöhnliches - jedenfalls für einen Normalbürger im Magdeburger Frühling und Frühsommer: "Ich habe nach dem Training viel Zeit in Wärmebädern und in der Sauna verbracht, um den Körper schon mal auf die hohen Temperaturen vorzubereiten", erzählte er nach seinem 1500-Meter-Drama in Fukuoka.
Sightseeing in Fukuoka, schweißgebadet? Nicht gut, wenn man danach wieder schwimmen soll
Er erzählte auch, dass er sich nicht vorstellen könne, dass es am Druck gelegen habe, damit könne er umgehen. Aber klar: Die Saison war lang, das schon, er fühle sich nun körperlich ausgelaugt, auch mental. Und dass er nicht ausschließen möchte, dass auch die einwöchige Pause zwischen Freiwasser- und Beckenrennen etwas mit ihm gemacht habe. "Das könnten Faktoren sein", sagte Wellbrock. Man trainiert, hat Physiotherapie, sitzt im Hotel, das kann monoton werden. Sightseeing in Fukuoka, schweißgebadet? Nicht gut. Wellbrock war mal Shoppen mit Isabel Gose und Lukas Märtens. Aber um all die Leckereien, den rohen Fisch, das Sushi, die Straßenküchen machten sie einen Bogen, weil es ihnen zu heikel war.
Wellbrock hatte schon in den Tagen nach den 800 Metern, als seine Technik geruckelt und er seinen Rhythmus nicht gefunden hatte, gespürt, dass die Luft ein wenig raus ist - obwohl er zugleich eine Trotzreaktion zeigen wollte. Bei den 1500 Metern stimmte dann gar nichts mehr. "Das, was ich hier bei der WM im Pool gezeigt habe, das ist nicht der Florian Wellbrock, der ich bin", sagte er noch. Und fast beschwörend: "Das, was hier passiert ist, hat mit Paris nichts zu tun." Die Olympischen Spiele sind das große Ziel, vielleicht sein letztes im Sport, er möchte dort (nach Gold im Freiwasser und Bronze über 1500 Meter 2021 in Tokio) auch im Becken einmal ganz oben stehen.
"Es geht jetzt darum, Florian wieder aufzubauen"
Nun ist der Schwimmer Wellbrock erst einmal tief gefallen, so tief wie noch nie. "Es geht jetzt darum, Florian wieder aufzubauen. Er hat hier eine super WM gemacht, ist zweimal Weltmeister geworden, das steht erstmal für mich im Vordergrund", sagte Berkhahn. Alte Trainerschule, der 52-Jährige kann das gut: Selbst im größten Erfolg noch Kritik üben, in der Niederlage aber große Nachsicht zeigen.
Neben zanpei suru gibt es in der japanischen Sprache einen weiteren schönen Begriff: Daruma. Diese Figuren aus Pappmaché sieht man oft vor buddhistischen Tempeln. An der Unterseite werden sie mit einem Gewicht beschwert, damit sie nicht umfallen können. "Stehaufmännchen" werden die in Japan so beliebtesten Glücksbringer auch genannt, sie sind ein geflügeltes Wort. Weil sie Mut machen sollen, sich in jeder Situation wieder aufzurichten. Ein Daruma für Wellbrock? Er kann es gebrauchen.