Schwimm-WM:Angie, der Tollpatsch

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Zu Tränen gerührt - Die neue Weltmeisterin Angelina Köhler. (Foto: Hassan Ammar/dpa)

Die neue Schwimm-Weltmeisterin Angelina Köhler passt nicht ins Raster der aalglatten Spitzensportlerin. Sie wurde als Jugendliche gemobbt, ist ein veritabler Schussel - und hat eine klare Botschaft: Man muss nicht perfekt sein, um gut zu sein.

Von Sebastian Winter

Es brachen dann doch ein paar Wellen über Angelina Köhler zusammen. Aber sie hat sie einfach gesurft, wie es ihre Art ist. Nach dem Anschlag über 100 Meter Schmetterling am Montagabend brach sie in Tränen aus. Beim Interview neben dem Pool weinte sie einfach weiter. Die Nationalhymne bei der Ehrung hätte sie schon gerne gesungen, konnte aber nicht, wegen der Heulkrämpfe. Köhler wurde dann von den Unterlegenen geherzt: Claire Curzan aus den USA und die Schwedin Louise Hansson waren ganz aus dem Häuschen wegen dieser wirklich fassungslosen Frau.

Tags darauf sagt die nun ganz seriös vor einer Werbetafel in Doha drapierte Köhler in der Videoschalte: "Man sieht das dann im Fernsehen, wie man so weint, und denkt: Oh nein! Aber es war auch süß. So bin ich halt."

Die Dopingkontrolle dauerte dann ewig, ihre Eltern besuchten sie im Hotel, erst um halb zwei nachts fiel sie ins Bett. Die 200, 300 Nachrichten auf Instagram und Whatsapp möchte sie in aller Ruhe beantworten. Wichtiger war ihr, am Dienstag mit dem Schwimmer Ole Braunschweig, ihrem besten Kumpel, lecker zu frühstücken: "Wir haben Donuts gegessen, das musste heute sein."

Dass Köhler nun Weltmeisterin ist über 100 Meter Schmetterling, hat eine gewisse Tragweite: Britta Steffen war 2009 in Rom die bis zuletzt letzte deutsche WM-Goldgewinnerin im Becken, in einer Zeit, in der Silvio Berlusconi dort regierte, in Italiens Kapitale, so lange ist das mittlerweile her. Seither ist das deutsche Frauenschwimmen mehr und mehr aus der Öffentlichkeit verschwunden, gerade im Delfinbereich. Und dann kommt da dieser Emotionsbolzen aus Dernbach im Westerwald und stellt alles auf den Kopf.

Viele wenden nun ein: Zhang Yufei war nicht da, Sarah Sjöström nicht, Maggie Mac Neil auch nicht, all die großen Schmetterlinge. Andererseits: Mit diesen 56,28 Sekunden, ihrer Siegerzeit im Finale von Doha, hätte Angelina Köhler ein halbes Jahr zuvor bei der WM in Fukuoka Silber gewonnen - hinter Yufei, vor Mac Neil, der Olympiasiegerin von Tokio. Dieses Argument also, dass ja nur die Absenz der Elite bei der wegen Corona verschoben, nun in den Kalender gepressten Weltmeisterschaft den Deutschen zu Medaillenglanz verhilft, greift bei Köhler viel zu kurz.

Die 23-Jährige hat Schritt für Schritt die Leiter erklommen - und dabei nicht den einfachen Weg gewählt. Sie siedelte vom Westerwald nach Hannover über, weil die dortige Trainingsgruppe besser war, ihre Eltern zogen ihr nach. Als die Gruppe zerbröselte, stand sie vor der Frage, ins hochprofessionelle US-College-System zu wechseln - und entschied sich aus dem Bauch heraus für den Umzug zur SG Neukölln. Dort hat sie ihr Wohlfühlumfeld gefunden. Cheftrainer Lasse Frank und sein Team, die den neuen deutschen Schwimmleuchtturm auf der Kurz- und Mittelstrecke in Berlin betreuen, haben ihr akribisches Arbeiten beigebracht. "Meine Wenden und meine Starts waren grauselig, meine Kicks waren unter aller Sau, ganz weit weg von der Weltspitze. Da kann ich jetzt mithalten und auf der letzten Bahn meine Stärken ausspielen", sagt Köhler.

"Ich war schon immer ein bisschen anders als alle anderen", sagt Köhler. Auch deswegen ist sie gemobbt worden

Ganz wichtig war: Braunschweig und die anderen haben sie nicht schief angeschaut - sondern Köhler so akzeptiert, wie sie ist. Denn diese Frau passt überhaupt nicht ins Raster der aalglatten Spitzensportlerin. "Ich war schon immer ein bisschen anders als alle anderen", sagt sie am Dienstag in Doha. Auch deswegen sei sie viel gemobbt worden in ihrer Jugendzeit: "Wenn man ziemlich groß und dünn ist, lange Arme und große Zähne hat, eine Brille trägt und über seine eigenen Füße fällt, ist es einfach für große, ältere Jungs, sich über einen lustig zu machen."

An solchem Psychoterror können nicht nur Jugendliche, sondern auch Erwachsene zerbrechen. Köhler aber hat diese Zeit bestärkt: "Ich will den jungen Leuten zeigen, dass man nicht perfekt, arrogant, abgehoben sein muss, um Leistung zu zeigen. Ich bin immer noch Angie, die Tollpatschige." Die also öfter mal zu spät kommt oder ständig irgendwas vergisst. Einen Euro zahlt jeder in die Mannschaftskasse für jedes Teil, das er in der Umkleide oder sonstwo liegen lässt. Köhler ist die fleißigste Einzahlerin.

Sich trotz des Scheinwerferlichts nicht verbiegen zu lassen, zu seinen Schwächen zu stehen, sich treu zu bleiben, trotz all der Selbstzweifel - das ist die Geschichte, die Köhler erzählen will. Fast hätte sie mal alles hingeschmissen, vor den Olympischen Spielen in Tokio, als sie wegen einer Corona-Infektion die Qualifikation verpasste. "Für mich ist damals eine Welt zusammengebrochen", sagt Köhler. Sie ging dann einfach in ein Feriencamp für Jungs nach Österreich, als Betreuerin. Spielte Fußball und badete im See mit ihnen. "Da habe ich gemerkt, dass mich auch andere Sachen ausmachen. Und dadurch habe ich wieder neue Energie gewonnen."

Energie, die sich nun im olympischen Jahr entfaltet. Eine Zeit von 56,30 Sekunden hatte sie mit ihren Trainern als Jahresziel definiert, im Halbfinale von Doha schwamm sie schon 56,11 - deutscher Rekord. Wo das noch hinführt? "Ich gehe total entspannt an die Olympischen Spiele ran", sagt Köhler. Sie mag den Druck.

Und in Doha geht es auch noch weiter, auf 50 Meter Schmetterling und 50 Meter Freistil, wer weiß, was da noch kommt. Köhler wird sich vorbereiten wie immer. Im Callroom, wo sie alle vor dem Rennen sitzen, wird sie wieder Kopfhörer tragen, "Cruel Summer" von Taylor Swift hören - und tanzen. "Die Leute dort denken schon, ich bin bescheuert", sagt Köhler.

Ist sie aber nicht. Sie ist einfach sie selbst.

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