Rugby-WM:Bereits beim Haka beginnt die Auflehnung

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Die Spieler von Neuseeland führen den Haka vor Spielbeginn auf, während die Engländer ein V für Victory bilden. (Foto: dpa)
  • Die 7:19-Niederlage von Titelverteidiger Neuseeland im Halbfinale der Rugby-WM gegen England zeigt, wie verwundbar eine sieggewohnte Mannschaft wird, wenn sich der Gegner ihrer Stärken verweigert.
  • Einen Tag nach dem Spiel lobt Neuseelands Trainer Steve Hansen: "Das ist Rugby in seiner einfachsten Form. Aber es ist auch wunderschön. Sie nutzen den starken Mann in seiner ganzen Pracht."

Von Thomas Hahn, Tokio

Jemand fragte Steve Hansen, ob das Spiel um Platz drei nicht Zeitverschwendung sei bei einer Rugby-WM. Und der Chefcoach von Team Neuseeland hätte in diesem Augenblick sicher sehr ausführlich darüber sprechen können, wie nervig das ist, nach einer gescheiterten Mission noch mal alle Geister im Team lebendig werden zu lassen, damit nach der Halbfinalniederlage nicht gleich das nächste Unglück passiert. Aber Hansen, 60, ein aufrechter Vertreter seines Sports, beließ es bei dem Hinweis, dass er nicht in der Position sei, eine solche Frage zu beantworten: "Fakt ist, das Spiel ist da, und wir müssen da hin." Seine All Blacks haben am nächsten Freitag als gescheiterter Titelverteidiger gegen Wales im sogenannten kleinen Finale anzutreten. Während Englands Mannschaft am Samstag in Yokohama um den Webb-Ellis-Pokal gegen Südafrika spielen darf nach einem nicht einmal knappen 19:7-Sieg über Neuseeland. "Das sind die unbequemen Fakten", sagte Hansen.

Der alte Coach und seine Spieler zahlen in den Stunden nach dem Scheitern den Preis des anhaltenden Erfolges. In ihrer langen Geschichte haben sich die großen All Blacks vom kleinen, entfernten Inselstaat im Pazifik den Status des ewigen Favoriten erarbeitet. Daraus folgt, dass jede ihrer seltenen Niederlagen zum Fest der anderen wird, jeder Wackler zur Sportsensation. Dass Südafrika im zweiten Halbfinale Wales mit 19:16 Punkten niederrang, wirkte deshalb am Ende wie eine Randnotiz des Rugby-Wochenendes. Englands Mannschaft hingegen konnte sich feiern lassen als Befreier des Rugbys von jahrelanger neuseeländischer Herrschaft.

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Seit 2007 hatte Neuseelands Rugby-Team nicht mehr bei einer WM verloren, doch nun scheitern die All Blacks überraschend im Halbfinale an England.

Den dritten WM-Titel in Serie hatten die All Blacks angepeilt nach den Erfolgen 2011 und 2015, den vierten insgesamt, die Bestätigung ihrer Souveränität. Und sie wirkten ja auch lange unangefochten im Turnier: Arbeitserfolg zum Auftakt gegen Mitfavorit Südafrika, tänzerische Leichtigkeit und hohe Siege gegen Kanada und Namibia, ungefährdetes Weiterkommen im Viertelfinale gegen Irland. Aber dann kamen die Engländer mit ihrem Auftrag, das Vorrunden-Aus bei der Heim-WM 2015 wiedergutzumachen, und mit ihrer Entschlossenheit, die sie von der ersten Minute des Spiels an ausstrahlten.

Die sie genauer gesagt schon vor der ersten Minute des Spiels ausstrahlten.

"Das ist Rugby in seiner einfachsten Form. Aber es ist auch wunderschön"

Die Niederlage der All Blacks gegen England im Halbfinale der Rugby-WM erzählt nicht nur von einem Favoritensturz. Sie zeigt, wie verwundbar ein sieggewohntes Team wird, wenn der Gegner dessen Stärken ignoriert. Englands australischer Chefcoach Eddie Jones hatte seine Mannschaft darauf eingeschworen, nichts zu bedienen, was dem Spiel der Neuseeländer entgegenkommt. Und diese Vorgabe betraf offensichtlich auch das Ritual der All Blacks vor der Partie. Denn die Auflehnung der Engländer gegen die All Blacks begann schon mit der Art, wie sie den Haka betrachteten, den traditionellen Einstimmungstanz der All Blacks.

Normalerweise stehen die Teams züchtig auf einer Linie und schauen sich das Schauspiel an. Manche Spieler motiviert der Anblick, andere schüchtert er unterbewusst vielleicht ein, wieder andere sind genervt davon. Für die All Blacks aber ist der Haka ein vitaler Bestandteil des Spiels, eine Energiequelle ihres Teamgeists. Und die Engländer wollten dieser Energiequelle etwas Kraft nehmen, indem sie den Haka nicht einfach nur demütig abwarteten. Sie stellten sich versetzt voneinander auf, so dass sie ein großes V bildeten, und als die Kamera das Gesicht von Kapitän Owen Farrell einfing, war darauf ein Lächeln zu sehen, das abschätzig wirkte.

Kieran Read, der Kapitän der All Blacks, hat später gesagt, dieses Verhalten der Engländer habe "keine Auswirkungen auf das Spiel gehabt". Aber was sich im Unterbewusstsein abspielt, können auch aufrechte Charakterköpfe nicht wahrnehmen. Tatsache war jedenfalls, dass die Engländer mit dieser Aufstellung etwas sagen wollten. "Wir haben versucht, früh den Anspruch klar zu machen", sagte Flanker Tom Curry, "es hat funktioniert."

Dass der Haka mal ein Angriffspunkt der All Blacks sein könnte, ist einer dieser überraschenden Aspekte des Spiels gewesen. Ein anderer war der Umstand, dass die All Blacks nicht einfach nur irgendwie knapp verloren. Sie waren tatsächlich in allen Belangen unterlegen an diesem Abend. "Wir sind immer dem Rückstand hinterhergelaufen", sagte Kieran Read. Und der hatte sich aus einem sehr frühen - dem einzigen - englischen Try ergeben. Manu Tuilagi erzielte ihn aus dem Gewühl heraus. 1:39 Minuten waren erst gespielt. Auch das war Teil des Plans. "Die Herausforderung bestand darin, es vor ihnen zu schaffen", sagte Englands Nummer acht, Billy Vunipola, "es ging darum, sie zu schocken. Die ganze Woche haben wir darüber gesprochen."

Erst der achte englische Sieg im 42. Aufeinandertreffen

Der Rest: Verteidigen, Bälle erobern, Fouls erzwingen - das können die Engländer, das ist im Rugby sozusagen ihre Kernkompetenz, und sie machten das beinahe perfekt. Die All Blacks hatten dagegen kein Konzept und kassierten einen Penalty-Kick nach dem nächsten, vier insgesamt. Als Ardie Savea in der 57. Minute endlich durchbrach und die All Blacks auf 7:13 verkürzten, war es im Grunde schon zu spät. "Das bessere Team hat gewonnen", sagte Hansen nach dem Spiel. Tags darauf charakterisierte er die Leistung der Engländer umfassender. "Sie spielen nicht anspruchsvoll. Ball gewinnen, Ball dem starken Burschen geben, hart rennen", sagte er: "Das ist Rugby in seiner einfachsten Form. Aber es ist auch wunderschön. Sie nutzen den starken Mann in seiner ganzen Pracht."

Die Briten wussten, dass Hansen Recht hatte, und sie waren stolz darauf, denn das bedeutete, dass ihre Rugby-Kultur endlich mal die feinere Rugby-Kultur der All Blacks bezwungen hatte; es war erst der achte englische Sieg im 42. Aufeinandertreffen. Es gehört zu den Verdiensten von Eddie Jones, seit 2015 der erste Ausländer auf dem englischen Cheftrainerposten, die Vorzüge eines variableren Spiels mit der ursprünglichen britischen Kampfkraft vereint zu haben. "Als Eddie kam, hat er gesagt, wir wollen England sein", sagt Billy Vunipola, "auch wenn das bedeutet, dass wir nicht so gut aussehen. Wir sind anders. Wir spielen unser eigenes Rugby."

Und nun? Die Engländer müssen ihren Erfolg verdauen. Südafrika ist ein ganz anderer Gegner, ihnen viel ähnlicher in der Spielanlage als die Neuseeländer. Und Steve Hansen muss seine Leute einschwören auf das letzte kleine Spiel, das sie allerdings auf keinen Fall verlieren dürfen.

© SZ vom 28.10.2019 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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