Reifen-Diskussion in der Formel 1:Ärger um die schwarze Magie

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Die Reifen spielen in dieser Formel-1-Saison eine entscheidende Rolle. Die Unterschiede zwischen den angebotenen Gummimischungen sind gravierend, die Handhabung des Materials ist diffiziler als zuvor. Michael Schumacher gefällt das nicht. Er stellt die Sinnfrage: Ist das noch Rennsport - oder schon Bremssport?

Elmar Brümmer, Barcelona

46.000 Fahrgäste, vermutet Spaniens Eisenbahngesellschaft Renfe, werde sie zusätzlich zum üblichen Sonntagsgeschäft zum Großen Preis von Spanien transportieren. Vermutlich aber pilgert niemand von diesen zur Formel 1, um Rennfahrer dabei zu erleben, wie sie "ein Temperaturfenster" kontrollieren. Genau darum aber wird es beim Europastart der Rennserie gehen.

Schumacher im Mercedes: "Wie auf rohen Eiern" (Foto: dpa)

Denn wer das veränderte Berufsbild der Top-Piloten derzeit etwas blumiger umschreiben möchte, der nennt sie "Reifenflüsterer". Klingt nicht spannend - ist es aber. Vier verschiedene Sieger gab es in den ersten vier Rennen der Saison 2012, was auch der Unberechenbarkeit der Reifen geschuldet ist. Die Formel 1 ist zu einer Art Glücksspiel geworden, bei der die siegreiche Farbe schon fest steht: s chwarz.

Wichtig, aber oft unterschätzt sind die Pneus am Auto, das gilt im Straßenverkehr wie auf der Rennstrecke. An das rasende Wechselspiel in der Boxengasse haben sich die Zuschauer längst gewöhnt, an Unsicherheiten über die Haltbarkeit der Reifen auch. In dieser Saison aber - es ist die zweite, in der Pirelli als Monopolist die Reifen an alle Teams liefert - sind die Unterschiede der angebotenen Gummimischungen noch gravierender, ist die Handhabung des Materials noch diffiziler geworden.

Das ist kein Zufall, denn die Firma folgt dem Auftrag von Grand-Prix-Vermarkter Bernie Ecclestone. Der Brite versucht, über die Reifen Einfluss auf die Dramaturgie zu nehmen. Auch über Reifen, die plötzlich Haftung verlieren und damit das Auto einbremsen, soll das Spektakel gesteuert werden.

Der Einfluss ist so gewaltig, dass Michael Schumacher nach dem jüngsten Rennen in Bahrain klagte: "Man sollte sich die Frage stellen, ob die Reifen eine solche Rolle spielen sollten oder ob sie es erlauben sollten, dass jeder Fahrer seine Leistung gleichmäßig abrufen kann."

Der Silberpfeil-Pilot, der Zehnter wurde, fühlt sich durch die Rücksichtnahme aufs Material aufgehalten. Nur noch mit 60 oder 70 Prozent der kalkulierten Höchstgeschwindigkeit sei das Gefährt durch die Kurve zu steuern, will ein Pilot die Reifen dort nicht zu sehr zu verschleißen. Schumacher stellt damit die Sinnfrage für die ganze Formel 1: Ist das noch Rennsport - oder schon Bremssport?

Paul Hembery, der Sportchef von Pirelli, verfolgt die Strategie, den Rekordweltmeister mit seiner Meinung zu isolieren. Denn kein anderer Pilot hat in dieser Deutlichkeit öffentlich übers Gummi geklagt. Alle gegen Schumacher? Keineswegs. Der Routinier ist nur derjenige, der in die Offensive ging, der Rest übt Diplomatie und stille Verzweiflung.

Hembery behauptet sogar, dass es jetzt viel mehr als früher auf die Fähigkeiten des Fahrers ankomme, dessen Talent, das Tempo zu dosieren. Schumacher aber bleibt bei seiner Kritik, gegenüber CNN hat er sie sogar verschärft: "Wir fahren wie auf rohen Eiern."

Zehn Zylinder in der Formel 1
:Hauptdarsteller aus Gummi

Wer weiß in der Formel 1 angesichts der verrückten Reifen schon noch, welches das beste Auto ist oder gar der beste Fahrer? Sebastian Vettel rollt wenige Meter nach dem Ziel aus, Michael Schumacher hat einfach nur Pech - und den härtesten Job hat der Mechaniker.

Elmar Brümmer, Sakhir

Viele seiner Erfolge hat Schumacher, 43, einer bewusst aggressiven Fahrweise zu verdanken; geht er nicht vom Gas, ahnt er die Konsequenz: "Dann übertreibst du und landest im Nirgendwo." Niemand kann mehr das Tempo fahren, das der Rennwagen hergibt, sondern nur noch das, das die Reifen erlauben.

Wer in der vorletzten Runde noch Zweiter war, dann aber von seinen Reifen verlassen wird, der kommt als 14. ins Ziel - so wie Kimi Räikkönen, dem neuen Geheimfavoriten der Formel, schon ergangen ist. "Abbauen" nennt es die Zunft, wenn die Reifen abrupt ihre Eigenschaften verlieren.

"Dass es in diesem Jahr so eng zugeht in der Formel 1, hat mit unseren Mischungen zu tun", verkündet Hembery stolz. Dem Techniker eines Top-Teams geht genau diese Haltung gegen den Strich: "Die Reifen lassen mich wie einen Deppen dastehen."

In Barcelona könnten die Differenzen noch größer werden. Denn erstmals in dieser Saison wird eine weiche Mischung angeboten und eine harte, die Zwischenstufe Medium entfällt. Der Zeitunterschied zwischen beiden Mischungen ist gravierend, Experten schätzen ihn auf bis zu 1,2 Sekunden pro Runde.

Zwei Mischungen werden dem Feld pro Rennen zur Verfügung gestellt, jede Mischung muss einmal gefahren werden. Der Strategie-Poker, der den Titelkampf entscheidet, wird dadurch noch einmal verschärft. Hier kommt der Begriff "Temperaturfenster" ins Spiel: Bei 90 bis 100 Grad entwickeln die Gummis ihre höchste Haftung, in dieses Fenster muss der Pilot finden.

Es ist nicht unüblich, in einer technischen Sportart den Wettbewerb über solche Tricks zu regeln. In Erinnerung ist der Reifenkrieg zwischen Bridgestone und Michelin zu Beginn des Jahrtausends, der die Branche mit einem gewaltigen Testaufwand fast in den Ruin getrieben hätte.

Anfang Mai bei den Testfahrten in Mugello, bei denen elf der zwölf Rennställe in drei Tagen 13 343 Kilometer abspulten, wurde die Fenster-Findung trainiert: Von der Basistemperatur 75 auf die optimalen 95 Grad zu kommen, das geht nur über eine kompliziertes Anpassung des Rennwagens an die vier Walzen. Hembery kündigt bereits an, der bisherigen Produktlinie treu zu bleiben: "Wir liefern schnellere Reifen, die im Sinne einer guten Show schneller an Haftung verlieren."

© SZ vom 11.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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