Am Mittwochvormittag war Seefeld noch von der üblichen Vorfreude erfüllt gewesen, Frauen zogen mit Schmink-Kästen durch die Fußgängerzone und pinselten Besuchern der Nordischen Ski-WM die gewünschte Landesflagge auf die Wangen. Rund 200 Meter jenseits der Fröhlichkeit, in der Innsbrucker Straße, lag derweil ein Ferienhaus unscheinbar in der Morgensonne, eine Villa mit rosafarbenem Putz, braunem Giebel und Balkonen aus hellem Holz. Ein Schild auf einem Parkplatz legte nahe, wer sich dort in der Nachbarschaft einquartiert hatte: "ÖSV parking only" stand da, reserviert für Bedienstete des Österreichischen Skiverbandes. Die Rollos in der Villa waren bereits heruntergelassen, die Ermittler bereits am Ort gewesen.
"Operation Aderlass", so haben österreichische und deutsche Kriminalbehörden jenes Unterfangen getauft, das am Mittwoch den kleinen WM-Ort in Tirol erschütterte und den globalen Sport wohl in die nächste, gewaltige Krise stürzt. 120 Beamte waren den ganzen Tag über im Einsatz, in Seefeld nahmen sie fünf Spitzensportler fest, die am Nachmittag im WM-Langlauf über 15 Kilometer hatten starten wollen.
Exklusiv Doping-Fahndung bei Ski-WM:Fünf Spitzensportler bei Razzia festgenommen
Seit Vormittag läuft eine Razzia am Rande der Nordischen Ski-WM in Seefeld. Insgesamt wurden neun Personen festgenommen, darunter ein deutscher Arzt in Erfurt. Die Ermittler sprechen von einem "weltweit agierenden Dopingnetzwerk".
Es handelte sich um die Österreicher Max Hauke und Dominik Baldauf, beide angehende Polizeianwärter, Alexej Poltoranin aus Kasachstan sowie die Esten Karel Tammjarv und Andreas Veerpalu. Letzterer ist der Sohn von Andrus Veerpalu, dem Langlauf-Olympiasieger von 2002, der nach einem (später annullierten) Dopingbefund seine Karriere beendete. Der Verdacht nun in Seefeld: Blutdoping. Einen Athleten hatten die Ermittler auf frischer Tat erwischt, wie in einem billigen Krimi: mit der Kanüle in der Vene.
Kronzeuge Johannes Dürr löste den Sport-Krimi aus
Kurz zuvor hatten deutsche Zollbeamte in Erfurt bereits die mutmaßlichen Versorger der Seefelder Athleten ausgehoben. Sie durchsuchten unter anderem die Praxis des Sportmediziners Mark Schmidt, einst Teamarzt beim dopingumtosten Team Gerolsteiner und als solcher damals schon von Radprofis belastet. Der 40-Jährige und ein Komplize wurden am Ort festgenommen, die Behörden stellten zudem diverse Blutbeutel sicher, Zentrifugen, Computer, viel Beweismaterial. Schmidts Vater, ein Rechtsanwalt, wurde am Mittwoch parallel in Seefeld festgesetzt, er hatte die Versorgung der Athleten laut den Behörden mit einem weiteren Komplizen betreut. Man habe, teilte das österreichische Bundeskriminalamt später mit, ein "weltweit agierendes Netzwerk der Kriminalität" zerschlagen.
Sicher war zunächst in jedem Fall: Der Wintersport steckt mitten in einem neuen Dopingskandal. Einer, der vielleicht sogar die verseuchten Winterspiele vor fünf Jahren in Sotschi in den Schatten stellen könnte, wie manche Ermittler am Mittwoch mutmaßten.
Der Auslöser dieses neuen Sportkrimis, auch so viel steht bereits fest, waren Aussagen des Kronzeugen Johannes Dürr. Der österreichische Langläufer war während der Winterspiele 2014 des Dopings überführt worden, Mitte Januar hatte er nun in der ARD berichtet, wie er im Großraum München und in Ostdeutschland Blutdoping betrieben hatte. Dürr erzählte damals nicht, welcher Arzt ihn versorgt hatte oder wer aus seinem Umfeld ebenfalls dopte, zumindest nicht öffentlich. Er gab aber später an, von der Staatsanwaltschaft München vernommen worden zu sein. Und er sprach öffentlich von Systemzwängen, wie man im Sport nach und nach in den Betrug getrieben werde, was ihm vor allem aus dem deutschen Lager viel Kritik einbrachte. Dürr sei doch ein Einzeltäter, hieß es, der Aufmerksamkeit suche und alle Sportler in die Nähe des Generalverdachts rücke.
Intern waren die Ermittler - die Staatsanwälte in München und in Innsbruck - freilich bestens informiert. Sie sammelten Beweise, horchten Schmidt und dessen Umfeld aus, in Seefeld war der Zeitpunkt gekommen, um loszuschlagen. Am Dienstag erfuhren sie, wann die deutschen Blutkuriere anreisen wollten; sie wussten genau, welcher Sportler sich in welchem Quartier beliefern lassen würde. Am Mittwochmorgen waren in Seefeld bereits auffällig viele Männer mit Knöpfen in den Ohren unterwegs, Straßen waren gesperrt, immer wieder gab es Kontrollen. Am Mittag verkündeten die Behörden dann eine vorläufige Bilanz: Neun Festnahmen, 16 durchsuchte Quartiere, ein zentrales war die Villa in der Innsbrucker Straße, die offenkundig eine Blut-Tankstelle gewesen war. Direkt gegenüber vom ÖSV-Teamquartier.
Razzia bei der Nordischen Ski-WM:Doping made in Germany
Der Betrug im Sport ist keine "Charakterfrage", wie oft behauptet wird, sondern ein Systemzwang. Gerade die Deutschen müssten es wissen.
Um 14 Uhr begannen in Seefeld derweil die 15 Kilometer der Männer, bei Sonnenschein und vollen Tribünen. Die Langläufer brachen in kurzen Ärmeln in die Loipe auf, im Ziel dann: Athleten und Betreuer, die vor Ratlosigkeit dampften. "Schwarze Schafe gibt es leider immer", behauptete der Sonthofener Sebastian Eisenlauer, wichtig sei nur, "dass sie knallhart entfernt werden." Der Deutsche Skiverband (DSV) teilte mit, man sei nicht betroffen, weder die Athleten noch das medizinische Personal. Auch die Österreicher nährten tapfer die These der verirrten Einzeltäter. "Im ÖSV gilt Null-Toleranz gegenüber Doping", sagte der ÖSV-Präsident Peter Schröcksnadel, außerdem sei wohl kein Betreuer in die Vorfälle involviert. Was sich angesichts der durchsuchten Villa in unmittelbarer Nachbarschaft des ÖSV-Teamhotels noch zu einer, nun ja, interessanten These entwickeln könnte. Markus Gandler, der ÖSV-Langlauftrainer, befand jedenfalls: "Hoffentlich werden jetzt einmal die Drahtzieher erwischt." Ach ja?
Gandler war schon bei Olympia 2006 mittendrin gewesen, als italienische Ermittler die Quartiere des ÖSV durchsucht hatten. Schröcksnadel, schon damals der mächtige ÖSV-Boss, fabulierte auf einer hastig anberaumten Pressekonferenz, dass sein Land "zu klein" sei, um "gutes Doping" zu betreiben. Die Ermittler zogen derweil die Blutbeutel aus dem Teamquartier, diverse Langläufer und Biathleten wurden gesperrt, Betreuer erhielten Haftstrafen. Gandler wurde allerdings freigesprochen, aus Mangel an Beweisen. Dürr hatte der SZ in der vergangenen Woche noch gesagt, er und seine Teamkollegen hätten damals im TV gesehen, wie die verräterischen Beutel aus dem Quartier der damaligen ÖSV-Kollegen geflogen seien. Doch als er und die Jungen später nachrückten, habe der Verband ihnen nie erklärt, was damals passiert sei. Augen zu und durch?
Vor zwei Jahren dann, bei der Biathlon-WM in Hochfilzen, Österreich: Das Bundeskriminalamt durchsuchte die Quartiere der Kasachen, es fand medizinische Produkte und Medikamente. Außerdem wird in Österreich gerade intensiv gegen langjährige Spitzenleute des Biathlon-Weltverbandes IBU ermittelt; im Kern lautet der Verdacht: jahrelange Dopingvertuschung.
Am Mittwochnachmittag in Seefeld kam es schließlich zu einem kuriosen Gegenschnitt. Der Norweger Martin Sundby, einst wegen Salbutamol-Dopings milde sanktioniert, gewann die 15 Kilometer vor dem Russen Alexander Bessmertschnik - Letzteren hatte das Internationale Olympische Komitee nicht zu den Winterspielen 2018 nach Pyeongchang eingeladen, weil er offenkundig in die staatlich orchestrierte Dopingzucht vor fünf Jahren eingebunden war. Zur selben Zeit hatten die Ermittler in Innsbruck zu einer Pressekonferenz geladen, im zweiten Stock der Landespolizeidirektion, man war auf alles vorbereitet gewesen. Fernsehteams und Reporter trudelten ein, dann nahm zunächst Hansjörg Mayr Stellung, der Vertreter der örtlichen Staatsanwaltschaft. Man habe früh Hinweise erhalten, dass die Schmidts ihre Dienste bei der WM in Seefeld anbieten wollten, daraufhin habe man sie überwacht, in Zusammenarbeit mit den deutschen Behörden; so habe man auch diverse Klienten ermittelt. Es folgten: internationale Haftbefehle, die Festnahmen am Mittwoch.
Und dann gewährte Dieter Csefan, der Sprecher des österreichischen Bundeskriminalamts, noch einen Einblick in die Erfurter Blut-Tankstelle, die offenbar von einer breiten internationalen Kundschaft angesteuert worden war. Mark Schmidt habe mit einigen Komplizen jenes Labor betrieben, das nach SZ-Informationen mindestens ein knappes Jahrzehnt lang existiert haben soll und durchaus mit dem Blutarchiv des spanischen Dopingdruiden Eufemiano Fuentes vergleichbar sein könnte. Den Vater von Schmidt, so BKA-Mann Csefan, halte man für den Kopf dieser Gruppe. Man habe in Erfurt Dutzende Blutbeutel sichergestellt, "viele Beweise", es seien vermutlich auch andere Sportarten und Athleten aus diversen Nationen betroffen. "Wir stecken mitten in den Ermittlungen", sagte Csefan, während die Auslöser der Kameras ratterten.
Draußen, in Seefeld, strahlte derweil der Himmel über den Langlaufloipen, in unbeflecktem Blau.