Qualifikation zur Fußball-EM:Angriff der Kleinbürger

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Empört:Mats Hummels. (Foto: dpa)

In Europa herrschen verrückte Verhältnisse: Die Kleinen punkten, die Großen straucheln. Die Fußball-Elite hat die Kleinbürger unterschätzt - mit Hochmut haben die Auftritte der DFB-Elf aber wenig zu tun.

Ein Kommentar von Philipp Selldorf

Nach dem Spiel in Gelsenkirchen erzählte DFB-Verteidiger Mats Hummels von einem Vorfall, der sich bei der Abfahrt zum Stadion am Mannschaftshotel in Essen zutrug. Dort hatte ein Anhänger dem Dortmunder Nationalspieler seinen Ergebniswunsch mitgeteilt: Der Mann hielt ein 7:0 für das angemessene Resultat des Spiels gegen Irland. Hummels war darüber gleichermaßen schockiert wie empört, so ließ es sich jedenfalls seiner zornigen Miene entnehmen, als er die Episode schilderte. "Das ist mittlerweile die Erwartungshaltung, die die Leute an uns haben", beschwerte er sich.

7:0 - das ist natürlich eine vermessene Vorstellung. Ein 6:1 hätte es ja auch getan. Mit diesem Ergebnis hatten die Deutschen die Iren im Rahmen der WM-Qualifikation vor zwei Jahren auf deren home turf an der Landsdowne Road in Dublin besiegt, der Ehrentreffer, der keiner war, fiel kurz vor Schluss.

Aber die Zeiten haben sich seitdem auf wunderliche Weise geändert.

Unentschieden gegen Irland
:Der Weltmeister hat Angst

Die DFB-Elf verschläft gegen Irland die spielentscheidenden Momente und kassiert in der Nachspielzeit den Ausgleich. Löws Team gerät nun in der EM-Qualifikation gehörig unter Druck. Dabei schien ein Scheitern doch gar nicht möglich zu sein.

Von Ulrich Hartmann

In Europa herrschen verrückte Verhältnisse. Die im September gestartete Qualifikationsrunde zur Europameisterschaft 2016 widerlegt alle Experten-Prognosen. Die Kenner meinten ja ganz genau zu wissen, dass die Uefa mit ihrer Entscheidung, künftig 24 Teams für das Turnier zuzulassen, den eigenen Wett- bewerb entwertet hätte. Da fast die Hälfte der 53 Bewerber ans Ziel kommen wird, habe der Verband die Dramaturgie des Vorspiels quasi abgeschafft, hieß es.

Nach drei Spieltagen in der Qualifikationsrunde scheinen nun allerdings die Kapriolen der neue Normalfall zu sein: Deutschland verliert in Polen und gewinnt weder 7:0 noch 1:0 gegen Irland; Portugal verliert zu Hause gegen Albanien; Holland verliert auf Island; Spanien verliert in der Slowakei; Russland spielt in Moskau remis gegen Moldau; die Schweiz verliert in Slowenien; Bosnien verliert zu Hause gegen Zypern; und die neue europäische Großmacht ist Nordirland: Neun Punkte auf dem Konto, unter anderem nach einem Sieg beim WM-Achtelfinalisten Griechenland.

Unter schnödem Erfolgsdruck

Statt weniger Wettbewerb, wie befürchtet, herrscht zurzeit mehr Wettbewerb als je zuvor. Einer der Gründe ist sicherlich dieser: Europas Kleinbürger haben neue Hoffnung geschöpft. Der geänderte Modus lässt sie an die Chance glauben, auch mal eines dieser schönen Turniere zu erreichen, die bisher den Groß- und Mittelmächten vorbehalten blieben. Diesen Aspekt mag die klassische Elite hier und da unterschätzt haben.

Für die Deutschen trifft Letzteres nicht zu. Der missratene Start in die Kampagne beruht nicht auf dem Hochmut, der ein Team befallen kann, das soeben zum Weltmeister gekürt wurde. Er beruht vor allem auf den Problemen, die sich aus dem langen WM-Sommer ergeben haben: auf Verletzungen und Rücktritten wichtiger Spieler und auf allgemeinen Ermüdungserscheinungen; und auf der Tatsache, dass die unvermeidlichen Umbauten im Kader die Qualität des Teams nicht gehoben haben.

So sind der Bundestrainer Löw und seine gekrönte Mannschaft plötzlich unter schnöden Erfolgsdruck geraten. Man kann das Ganze aber auch positiv sehen: Angst vor Langeweile in der EM-Qualifikation brauchen die Deutschen jedenfalls nicht mehr zu haben.

© SZ vom 16.10.2014 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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