Sieger der Tour de France:Pogacar setzt die Radwelt unter Schock

Die Tour hat wahrhaftig viel erlebt in ihrer 117-jährigen Historie, aber so was? Tadej Pogacar gewinnt die Rundfahrt dank eines unwirklichen Antritts - und hinterlässt bei Beobachtern Staunen.

Von Johannes Knuth

Wo fängt man bloß an, in der obligatorischen Presserunde des neuen Tour-de-France-Siegers, nach so einem fiebrigen Tag? Möglichkeiten gibt es ja unzählige. Eine leider oft unterschätzte Variante ist die der österreichischen Reporter - der kurze Ausflug in den Wintersport sei gestattet -, die bei solchen Anlässen verlässlich mit der Gabe brillieren, die Tragweite des Ereignisses auch mal komplett zu ignorieren.

Da wird die neue Alpin-Weltmeisterin dann gefragt, ob sie vor ihrem großen Lauf eigentlich mit ihrem Servicemann darüber geredet habe, dass dessen Tochter heuer ihren zweiten Geburtstag feiert (Auflösung: "Nö"). Man würde ja sehr, sehr gerne erleben, was die Kollegen mit einem österreichischen Tour-Champion anstellen würden. Aber der Samstag bei dieser 107. Tour war dann auch ganz nett.

Da saß Tadej Pogacar, der Slowene, der am Montag 22 Jahre alt wird, in einem Saal von Reportern, deren Fragen von einem Echo des Staunens begleitet wurden. Er berichtete sehr höflich und unaufgeregt, wie er seinem Landsmann Primoz Roglic gerade in einem unwirklichen Zeitfahren den sicher geglaubten Gesamtsieg entrissen hatte. Irgendwann wurde er auch gefragt, ob er schon mit seiner Freundin telefoniert habe (Auflösung: Ja, aber der Empfang war nicht so gut).

Ein Reporter, der offenbar noch etwas mehr persönlichen Kolorit wünschte, hakte schließlich nach, wie Pogacar sich denn selbst beschreiben würde. "Ich bin nur ein Kind aus Slowenien mit zwei Schwestern und einem Bruder", entgegnete er, nun leicht verlegen: "Ansonsten mag ich es, das Leben und die kleinen Dinge zu genießen." Dann sagte dieser 21-Jährige, der gerade die Radsportwelt unter Schock gesetzt hatte: Der ganze Trubel, schon allein diese Pressekonferenz, "das ist alles viel zu groß für mich."

Die Tour de France hat wahrhaftig viel erlebt in ihrer 117-jährigen Historie: gebrochene Radgabeln, die die Fahrer eigenhändig in Schmieden flickten, Dopingdramen, Todesstürze, Schlammlawinen. Auch Finaltage wie 1989, als der Franzose Laurent Fignon sich seiner Sache vor dem Zeitfahren so sicher war, dass er auf so neumodischen Krams wie Zeitfahrlenker und -helm verzichtete - und acht Sekunden hinter den Amerikaner Greg Lemond rutschte. Als Fignon am nächsten Morgen in den Spiegel blickte, erinnerte das Sportmagazin Nummer eins einmal, "empfand er eine Leere, als habe seine Seele ihn verlassen".

Und jetzt? Da hatte Primoz Roglic, ein ehemaliger Skispringer, der vor sieben Jahren vom Bergabfliegen zum Bergaufklettern gewechselt war, das größte Radrennen der Welt schon fast auf seine Seite gezerrt - ehe ihm nach drei nahezu fehlerfreien Wochen doch noch dieser blutjunge Landsmann dazwischengrätschte. Auf der letzten Etappe am Sonntag, auf der der Klassement-Primus traditionell nicht mehr attackiert wird, trug Pogacar nicht nur die Insignien des Führenden unfallfrei nach Paris, er beschloss die Tour auch noch als Erster der Nachwuchs- und Kletterwertung.

Die Abstände waren in der Historie der Rundfahrt schon mal enger als jene 59 Sekunden, die er zwischen sich und Roglic am Ende legte - nachdem er das 36,2 Kilometer lange Zeitfahren hinauf zur Planche des Belles Filles am Samstag noch mit 57 Sekunden Rückstand angegangen war. Aber die Art, wie er dieses Finale umgebogen hatte, versetzte die Szene in ungläubiges Staunen. Nur: Ob das auch eine gute Nachricht war für die Tour? Für den Radsport an sich?

Statistiken zur 107. Tour de France

SIEGER SEIT 2010

2010: Andy Schleck* (Luxemburg)

2011: Cadel Evans (Australien)

2012: Bradley Wiggins (Großbritannien)

2013: Christopher Froome (Großbritannien)

2014: Vincenzo Nibali (Italien)

2015: Christopher Froome (Großbritannien)

2016: Christopher Froome (Großbritannien)

2017: Christopher Froome (Großbritannien)

2018: Geraint Thomas (Großbritannien)

2019: Egan Bernal (Kolumbien)

2020: Tadej Pogacar (Slowenien)

* nach Dopingfall Contador aufgerückt

KNAPPSTE ENTSCHEIDUNGEN (in Minuten)

0:08 Minuten, 1989: Greg Lemond (USA) vor Laurent Fignon (Frankreich).

0:23, 2007: Alberto Contador (Spanien) vor Cadel Evans (Australien).

0:38, 1968: Jan Janssen (Niederlande) vor Herman van Springel (Belgien).

0:40, 1987: Stephen Roche (Irland) vor Pedro Delgado (Spanien).

0:48, 1977: Bernard Thevenet (Frankreich) vor Hennie Kuiper (Niederlande).

0:54, 2017: Chris Froome (Großbritannien) vor Rigoberto Uran (Kolumbien).

0:55, 1964: Jacques Anquetil (Frankreich) vor Raymond Poulidor (Frankreich).

0:58, 2008: Carlos Sastre (Spanien) vor Cadel Evans (Australien).

0:59, 2020: Tadej Pogacar (Slowenien) vor Primoz Roglic (Slowenien).

Pogacar war am Samstag auf den Kurs geprescht wie ein junges Rennpferd, auf den ersten Metern nahm er Roglic zwölf Sekunden ab. Kurz vor dem finalen Anstieg - sechs Kilometer mit bis zu 20 Prozent Steigung am Ende! - war Roglics Guthaben schon auf 30 Sekunden geschmolzen. Ein bisschen merkwürdig war das ja schon: Pogacar gilt als starker Zeitfahrer, bei den slowenischen Meisterschaften hatte er Roglic zuletzt knapp bezwungen. Aber das war ein "ganz anderer Kurs", wie er später sagte, und Roglic, der bei großen Rundfahrten schon vier Zeitfahren gewonnen hat, würde dem Himmelsstürmer nun sicher die Grenzen aufzeigen. Dachten die meisten.

Roglic büßt den Vorsprung ein

Tatsächlich stieß der sichere Sieger an seine eigenen. Er hatte sich die Kräfte auch nicht besser eingeteilt. Als die beiden in den Anstieg eintauchten, trimmte Pogacar den Rückstand weiter, Sekunde um Sekunde. Und dann: Zerbarst Roglics Widerstand auf einmal in Tausend Scherben. Der Fahrer, der alle Etappen bis dahin wie ein menschgewordenes Metronom bestritten hatte, trat immer hektischer in die Pedale, sein gelber Zeitfahrhelm rutschte ihm von der Stirn, das dunkle, verschwitzte Haar kam zum Vorschein. Es war, als schrie sein ganzer Körper: Ich schaffe es nicht.

"Ich hatte einfach nicht genug Kraft. Tadej war in einer eigenen Welt", sagte Roglic, der im Ziel so traurig ins Leere starrte, als habe ihn nicht nur seine Seele verlassen.

"Unglaublich. Ich war heute Morgen schon froh mit meinem zweiten Platz", sagte Pogacar. Am Ende hatte er Roglic im Zeitfahren fast zwei Minuten aufgebrummt.

Daran gab es bei dieser Tour ja keinen Zweifel: dass da eine gewaltige Frühbegabung auf die große Bühne gestürmt war. Einer, der so früh auf den Nachwuchs-Podien ganz oben stand, dass ihn die Älteren trotzdem überragten; einer, der seit zehn Jahren vor allem eines kennt: "Trainieren, Rennen fahren, bescheiden bleiben", wie er am Samstag sagte. Mauro Gianetti, der Pogacars UAE-Team mit Sponsoren aus den arabischen Emiraten zu einem der wohlhabendsten Teams im Peloton aufgepäppelt hat, schwärmte jetzt in der NZZ vom Arbeitsethos seines Musterschülers: "Er will genau begreifen, warum er einmal drei statt fünf Stunden trainieren soll, oder warum er abends Proteine statt Kohlenhydrate essen muss." Als Pogacar im Mai, in der großen Corona-Leere, schon wieder an seine Leistungsgrenze stieß, habe man ihm eine Woche Trainingsverbot verordnen müssen. Er ging dann wandern und zelten. Und reiste "perfekt vorbereitet" zur Tour an.

Und die restlichen Zweifel? Tja.

Die begleiteten Pogacar und auch Roglic in Frankreich wie verlässliche Helfer im Peloton: die Zweifel am Umfeld, am slowenischen Radsport, am Radsport an sich. Roglic hatte unlängst beteuert, dass man ihm auf jeden Fall vertrauen könne, Pogacar ergänzte am Sonntag: "Ich habe eine weiße Weste." Als die Rede auf seine starke Form in der dritten Woche kam, die er schon im Vorjahr bewiesen hatte, als Dritter bei der Vuelta, sagte er: "Ich muss vermutlich meinen Eltern für die guten Gene danken."

Vielleicht musste man am Samstag auch nur in das versteinerte Gesicht von Tom Dumoulin blicken, der im Zeitfahren Zweiter geworden war, 1:21 Minuten hinter Pogacar. Fast drei Wochen lang hatte sein Jumbo-Visma-Team das Tempo bestimmt, Verfolger ermattet, den Kapitän Roglic umsorgt wie ein Bienenvolk seine Königin. Nur dieser 21-Jährige, der mit der Lust an der Attacke verschmolzen zu sein schien, verlor nie den Kontakt, oft ohne Helfer, bis auf einmal an einer Windkante. "Ganz ehrlich", sagte Dumoulin am Samstag: "Das lässt mich schon ungläubig zurück. Ich hätte gedacht, dass ich heute knapp gewinne oder nur knapp verliere." Dann fügte er mit blasser Stimme an: "Glückwunsch an ihn. Mehr können wir nicht sagen."

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