Tour de France:Erinnerungen an den Kannibalen

Tour de France

Rollt nun in Gelb ins Ziel: Tadej Pogacar.

(Foto: Christophe Ena/dpa)

Bei der dramatischsten Tour-Entscheidung seit langem entreißt Tadej Pogacar auf den letzten Metern Primoz Roglic den Gesamtsieg. Der 21-Jährige wird nun im gelben Trikot über die Champs-Élysées rollen.

Von Johannes Knuth

Diese Stille. Man hörte sie sogar aus der Ferne, vor dem Fernseher. Es war so eine aufgekratzte Stille, die den Zielraum auf der Planche des Belles Filles erfasste, in dem sich die Menschen drängten, dass man das Gras der steilen Hänge an manchen Stellen kaum sah. Eine Stille, die sich aus zwei völlig entgegengesetzten Polen speiste: Da war das stille Entsetzen von Primoz Roglic, der regungslos auf dem Boden saß, ins Leere starrte, dann den Kopf schüttelte, mit seiner Ratlosigkeit im Kreis zu rasen schien - nur, dass es bei diesem Rennen keine Ziellinie zu geben schien. Und da waren die Tränen und die stille Freude des Tadej Pogacar.

Die Tour de France hat wahrhaft viel erlebt in ihrer 117-jährigen Historie, gebrochene Radgabeln, die Fahrer in Schmieden eigenhändig flickten, Dopingdramen, Todesstürze, Schlammlawinen und, auch das, scheinbar sichere Gesamtsieger, denen der Triumph auf den letzten Metern entglitt. Aber so ein Drehbuch wäre selbst dem ambitioniertesten Dramaturgen wohl zu gewagt gewesen: Dass Primoz Roglic, ein ehemaliger Skispringer, der sich vor sieben Jahren entschied, die Berge nicht mehr hinabzufliegen, sondern hinaufzuklettern, das größte Radrennen der Welt schon fast auf seine Seite gezogen hatte - ehe ihm der Hauptpreis nach fast drei Wochen, in denen er und sein Jumbo-Visma-Team die Rundfahrt nahezu unangreifbar bestimmt hatten, von einem 21-jährigen Landsmann entrissen wird, beim entscheidenden Einzelzeitfahren. Denn auf der letzten Etappe, die an diesem Sonntag nach Paris führt, wird der Führende im Gesamtklassement nicht mehr attackiert.

Und dieser Gesamtführender heißt nun tatsächlich: Tadej Pogacar, 21 Jahre, Team United Arab Emirates. Jüngster Gesamtsieger der jüngeren Tour-Geschichte; ein Jahr, nachdem Egan Bernal mit 22 Jahren triumphiert hatte. Der erste slowenische Champion. Nebenbei auch noch bester Bergfahrer. Und bester Nachwuchsfahrer. Und Tagessieger, zum dritten Mal bei dieser Auflage. Eine Unersättlichkeit, die einen flott zu, tja, Eddy Merckx führt. Den fünfmaligen Tour-Sieger, den sie "Kannibalen" riefen.

"Das tat einfach nur weh, ihn so zu sehen"

"Ich glaube ich träume", sagte der Sieger: "Mein Traum war immer, als Kind bei der Tour dabei zu sein. Jetzt bin ich der Sieger." In seinem allerersten Anlauf übrigens.

"Mich hat einfach immer mehr die Kraft verlassen", sagte der Geschlagene, der den Sieger umgehend umarmte, mit erhobenem Daumen und versteinertem Gesicht.

"Das tat einfach nur weh, ihn so zu sehen", sagte Roglic' Teamkollege Wout Van Aert.

Das letzte große Hindernis, das die Kursplaner in diese Tour eingebaut hatten, hatte es noch mal in sich gehabt: Rund 30 Kilometer rollten die Fahrer vom Start in Lure bis an den Fuß der Planche des Belles Filles, dort ging es dann sechs Kilometer mit 8,5 Prozent im Schnitt hinauf. Kurz vor dem Ziel wartete sogar eine Rampe mit 20 Prozent. Die Tour ist erst seit 2012 regelmäßig an diesem Berg in den Vogesen zu Gast, wer hier das Gelbe Trikot behauptete, gewann später meist auch das Rennen. Dabei steht die Schönheit der Gegend fundamental im Gegensatz zur gruseligen Legende dahinter: Die Frauen im Dreißigjährigen Krieg sollen sich dort lieber von einer Planke aus in einen Teich gestürzt haben, statt den heranrückenden schwedischen Söldnern in die Hände zu fallen. Heute ist es ein Ort der Krönung, zumindest für die Tour. Auch wenn wohl nicht mal die spektakelfreudigen Architekten der Rundfahrt sich ein derartiges Finale hätten erträumen lassen.

Wie ein junges Rennpferd

Bevor die Besten an der Reihe waren, hatten erst mal die Gastgeber ihren Herzschmerz-Moment. Eigentlich war der Samstag ja auf Thibaut Pinot zurechtgeschneidert gewesen, der Franzose galt vor der Tour als großer Mitfavorit, das Zeitfahren am Samstag führte durch seinen Heimat Melisey. Sein Vater ist dort Bürgermeister, Pinot junior besitzt dort heute noch eine Farm. Aber Pinots Hoffnungen waren dann mal wieder früh zerschellt, diesmal bei einem Sturz schon auf der ersten Etappe, nach dem ihn schwere Rückenschmerzen plagten. Als er am Samstag durch Melisey fuhr, bereiteten sie ihm trotzdem einen gewaltigen Empfang, als käme ein Staatspräsident zur Visite.

Kurz darauf beendete Maximilian Schachmann (Bora-hansgrohe) den Tag als 17. und damit bester Deutscher. Auch Richie Porte erwischte einen hervorragenden Tag; der Australier, bei der Tour früher oft vom Pech verfolgt, verdrängte den Kolumbianer Miguel Angel Lopez noch vom dritten Gesamtrang. Aber das alles geriet bald zur Nebensache.

Pogacar, dessen Gemüt so sehr mit der Lust an der Attacke verschmolzen ist, preschte auf den Kurs wie ein junges Rennpferd, das ein bisschen zu lange in seiner Box gefangen war. Auf den ersten zehn Fahrminuten hatte er Roglic, der kurz nach seinem Verfolger losgerollt war, prompt zwölf Sekunden abgenommen. Kurz vor dem finalen Anstieg war Roglic' virtueller Vorsprung sogar von ursprünglich 57 auf 30 Sekunden geschmolzen. Ein bisschen merkwürdig war das schon, Pogacar ist zwar ein starker Zeitfahrer, aber Roglic galt als noch ein bisschen befähigter in dieser Disziplin, und in der Ebene vor dem letzten Anstieg hatte er eigentlich schon die Vorentscheidung herbeiführen sollen. So hatten das zumindest fast alle Beobachter antizipiert, Roglic vermutlich miteingeschlossen.

Pogacar trimmte seinen Rückstand Sekunde um Sekunde

Aber der Gelb-Träger tilgte keine Zeit. Er hatte sich seine Kräfte auch nicht besser eingeteilt. Als die Kontrahenten in den letzten Anstieg eintauchten, trimmte Pogacar seinen Rückstand weiter Sekunde um Sekunde. Kurz bevor es richtig steil wurde, wechselte er von seinem Zeitfahrrad auf einen leichteren Untersatz, den ihm die Trainer vom hinterherfahrenden Begleitfahrzeug reichten. Roglic? Wechselte ebenfalls, aber sein Begleiter bekam das neue Gefährt nicht gleich vom Dachträger gepflückt - es kam jetzt tatsächlich auf solche Kleinigkeiten an! Und dann: Brach Roglic' Nimbus auf einmal ein; als sei all seine Energie aus den Beinen geflossen und vom Winde verweht. Der Fahrer, der alle Etappen bislang wie ein Metronom bestritten hatte, unaufgeregt, unangreifbar, trat jetzt immer hektischer in die Pedale. Sein gelber Zeitfahrhelm rutschte ihm nach oben, das dunkle, verschwitzte Haar kam zum Vorschein. Er war verzweifelt.

Eine Pointe, die an 1989 erinnerte. Als der Franzose Laurent Fignon das abschließende Zeitfahren in Paris mit 50 Sekunden Vorsprung begann und am Abend acht Sekunden hinter dem Gesamtsieger Greg LeMond beendete. Wobei es jetzt, am Samstag, am Ende nicht mal annähernd knapp war. Pogacar lag im Ziel 1:56 Minuten vor Roglic, 1:21 Minuten vor dessen Teamkollege Tom Dumoulin, der als Tageszweiter die Zielankunft des neuen Siegers mit versteinerter Miene verfolgte. "Ganz ehrlich, das lässt mich schon ungläubig zurück. Ich hätte gedacht, dass ich knapp gewinne oder zumindest nur knapp verliere", sagte der Niederländer später. Dann fügte er mit blasser Stimme an: "Glückwunsch an ihn. Mehr können wir nicht sagen."

"Ich habe mein Bestes getan, Glückwunsch an Tadej", sagte auch Roglic später, in einem erstaunlich gefassten und freundlichen Ton, als habe er gerade nicht das größte Radrennen der Welt, sondern seinen Parka beim Waldspaziergang verloren. Das passte zu seinem Charakter. Andere wählten offensivere Worte. "Das war eine der besten Leistungen, die wir jemals im Radsport gesehen haben", gratulierte am Samstagabend ein alter Bekannter aus Texas: Lance Armstrong, einer der größten Sportbetrüger der Historie.

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