Para-Leichtathletik:Am Anfang war das Lila

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Posieren mit den neuen Kollegen: Andreas Walser (rechts) nach dem 100-Meter-Rennen bei den deutschen Meisterschaften in der Para-Leichtathletik 2022. (Foto: Sven Beyrich/SPP/Imago)

Früher spielte Andreas Walser American Football, wegen einer Augenkrankheit wechselte er zur Para-Leichtathletik und schaffte es im Weitsprung schnell unter die Besten - nun kämpft er sogar um den WM-Titel.

Von Vinzent Tschirpke

Eigentlich, erzählt Andreas Walser, kann er es immer noch nicht glauben. "Surreal" nennt er die vergangenen zwölf Monate, und surreal ist gerade vieles im Leben des 27-Jährigen. Noch vor einem Jahr spielte Walser in der Bayernliga Football. Als Defensive End war er bei den Königsbrunner Ants dafür verantwortlich, 100 Kilo schwere Gegner aus dem Weg zu räumen. Jetzt misst er sich in einer ganz anderen Welt mit der Konkurrenz: bei der WM der Para-Leichtathleten.

An diesem Mittwoch tritt er in Paris im Weitsprung an. Mit einer seltenen Augenkrankheit ist der Augsburger zuvor auf Anhieb auf dem dritten Platz der Weltrangliste gelandet und springt nun bei der WM um den Titel.

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Wenn er darüber nachdenkt, muss Walser lachen. Sein Interesse an Leichtathletik sei mehr durch Zufall entstanden. Als 2020 die Mannschaftssportarten wegen Corona ihr Training aussetzen mussten, machte Walser sein Sportabzeichen. Die Zeiten und Werte waren gut, und so begann er sich mehr und mehr für Leichtathletik zu interessieren. Schließlich saßen er und sein Bruder vor dem Fernseher und schauten sich die Zehnkämpfer bei den Paralympics in Tokio an: "Da habe ich zu ihm gesagt: Ich bin gar nicht so weit weg von den Typen - ich fang mit dem Leichtathletik-Training an, dann schaffe ich es 2024 locker nach Paris!", erinnert er sich.

Sein Bruder hatte etwas in Lila gesehen - die Mutter schickte beide zum Augenarzt

Noch hat sich die scherzhafte Prognose nicht erfüllt, doch Walser ist auf dem besten Weg dahin. Er hat lange Fußball gespielt, mit seinen 1,96 Metern suchten ihn seine Mitspieler in der Bezirksoberliga als Stoßstürmer. Zwar fehlte ihm eine besonders feine Technik, aber: "Meine Größe und Schnelligkeit haben immer gereicht, um regelmäßig zu knipsen", sagt Walser. Diese Athletik half ihm auch, als er wegen eines Streits im Verein zum Football wechselte. Hier konnte er seine Mischung aus Tempo und Wucht noch besser ausspielen. Schnell wurde den Mitspielern klar, dass er Talent hat. "Es haben immer mal ein paar Leute gesagt: Probier's doch in der Bundesliga, du hast das Zeug zum Profi", sagt Walser. Für den Wechsel auf eine Highschool in Amerika war er damals zu alt, eine deutsche Profiliga aber schien erreichbar.

Warum es nie dazu kam, kann Walser mit zwei Worten beantworten: Retinitis pigmentosa. So heißt die seltene Augenkrankheit, an der er seit mehr als zehn Jahren leidet. Er war 16, als er davon erfuhr. Eigentlich wollten er und ein paar Freunde das Olympiabad in München besuchen. Ein paar Sprünge üben vom Zehnmeterturm. Doch Walsers Bruder hatte kurz zuvor auf dem rechten Auge etwas in Lila gesehen, seine Eltern waren besorgt. Augenkrankheiten sind oft vererbbar, sie schickten vorsichtshalber also beide Kinder zu Untersuchungen in die Uniklinik. "Ich dachte, das werden nur ein paar Tests, ein Kontrolltermin für meinen Bruder", erinnert sich Walser. "Also hab ich meinen Kumpels gesagt: Das dauert nur eine Stunde, um neun Uhr komme ich ins Schwimmbad nach." Aus einer Stunde wurden sechs. Um 14 Uhr bekam Walser die Diagnose: Retinitis pigmentosa, eine Netzhautkrankheit, die nach und nach die Sehkraft verringert und schnell zu Nachtblindheit führt. Ein Schock? "Die unzähligen Tests waren für mich das Schlimmste. Am Anfang habe ich die Diagnose gar nicht richtig wahrgenommen, ich wollte ja zu meinen Freunden ins Schwimmbad", sagt Walser.

Walser will auch im Training so wenig Hilfe wie möglich beanspruchen

Die Krankheit veränderte seinen Alltag erst langsam, dann immer stärker. Den Führerschein machte er noch ohne Hilfsmittel, auch mit den Königsbrunner Ants lief es gut beim Football. Irgendwann fiel es ihm dann immer schwerer, Bälle zu fangen. "Also bin ich in die Defense gegangen, da läuft man ja in die Gegenspieler rein", sagt Walser, schließlich habe er keine Berührungsängste. Zwar konnte er abends nicht zum Training, weil er im Dunkeln nichts sieht und schon die Anreise mit dem Auto unmöglich gewesen wäre. Doch die Spiele am Wochenende wurden tagsüber ausgetragen, hier brachte er Leistung. "Mein Trainer wusste immer, dass er sich am Spieltag auf mich verlassen kann", erinnert sich Walser. Obwohl im Verein alle Rücksicht nahmen, wurde der Sport immer komplizierter. Wenn Walser einen Gegenspieler mal übersah, rauschte der plötzlich in ihn hinein.

Auch im Alltag musste er sich umstellen. Für seine Bachelorarbeit in Maschinenbau wählte er im Programm Word den dunklen Modus, durch die weiße Schrift auf schwarzem Hintergrund konnte er die Buchstaben besser erkennen. Er begann auch, eine Taschenlampe zu benutzen, um zum Beispiel die Temperatur beim Backofen einzustellen. Und durch den Wechsel in die Para-Leichtathletik schaffte er es, trotz sinkender Sehstärke Leistungssport zu betreiben. Und das erfolgreich. Seit er vor einem Jahr mit dem Weitsprung begonnen hat, steigerte er sich auf 6,96 Meter Bestweite - damit ist er aktuell auf Rang drei der Weltrangliste. "Als Defensive End bin ich beim Football in die Gegner rein explodiert, jetzt nützt mir diese Explosivkraft beim Weitsprung", sagt Walser. Außerdem helfe ihm sein Trainer Stefan Wastian.

Inzwischen ist seine Sehkraft auf dem rechten Auge auf vier Prozent gesunken, links ist es noch etwas besser. Damit er das Brett beim Absprung trifft, misst sein Trainer die Distanz aus. "Das sind immer 17 Schritte", sagt Walser. Bei der WM in Paris gibt es dafür zwar ohnehin eine 50-Zentimeter-Zone mit weißem Puder, von der der Absprung gemessen wird, doch Walser will auch im Training so wenig Hilfe wie möglich beanspruchen.

Grundsätzlich habe er für die WM keine festen Ziele, aber: "Ich will meinen Bestwert überbieten und der Welt zeigen, dass ich verdient hier bin." Für Medaillen sei immer noch bei den Paralympics im nächsten Jahr Zeit, jetzt gehe es erst mal darum, die Atmosphäre im Stadion und der Stadt zu genießen.

Bislang habe er davon noch nicht viel mitbekommen. In zwei Wochen stünden die Prüfungen in seinem zweiten Studium an - Lehramt Mathematik und Physik -, nach dem Training in Paris habe er deshalb vor allem gelernt. "Daran ändert auch eine WM nichts", sagt Walser. Die nächsten Tage werden noch surreal genug.

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