Paralympics-Siegerin:Eine Geschichte für sieben Leben

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"Ich bin von Wolke sieben runtergefallen und auf dem Asphalt aufgeschlagen": Elena Semechin. (Foto: Marcus Brandt/dpa)

Die fast blinde Schwimmerin Elena Semechin wusste Ende 2021 nicht, ob sie eine Hirntumor-Operation übersteht. Nun startet sie bei der deutschen Meisterschaft. Es ist der Anfang ihres nächsten, neuen Lebens.

Von Sebastian Winter

Elena Semechin ist eine sehr beschäftigte Frau in diesen Tagen, sie müsse bald mal aufhören, all die Anfragen zu beantworten, sagt sie und lacht ins Telefon. Aber ihre Geschichte ist eben auch eine, die aufmerksam macht - weil sie für sieben Leben trägt. Oder für eine Bücherserie mit dem Titel: "Die ewige Kämpferin".

Das jüngste Kapitel schließt nun mit ihrer Teilnahme an der Paraschwimm-DM in Berlin. An diesem Donnerstag startet Semechin, 29, die wegen der Erberkrankung Morbus Stargardt fast blind ist, dort über ihre Lieblingsstrecke 100 Meter Brust. Am Samstag dann über 50 Meter Kraul, am Sonntag über 50 Meter Brust und 50 Meter Schmetterling. Es ist ihr erster Wettkampf in diesem Jahr. Und der Anfang ihres nächsten, neuen Lebens.

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Ihr altes endete im Oktober 2021. Semechin, die mit Mädchennamen Krawzow heißt und als Elfjährige aus ihrer Heimat Kasachstan über Russland als Spätaussiedlerin nach Deutschland kam, hatte im Spätsommer über 100 Meter Brust Gold bei den Paralympics gewonnen. Nach diversen WM- und EM-Titeln war es die letzte sportliche Auszeichnung, die ihr noch fehlte. Den Urlaub danach verbrachte sie mit ihrem Trainer und Verlobten in Paris; eine Zeit, sich fallen zu lassen, doch schon da hatte sie Kopfschmerzen.

Kurz vor der OP heiratet sie - "so schnell kannst du nicht mal in Las Vegas heiraten"

Das MRT zeigte kurze Zeit später einen Hirntumor, bösartig, über der Schläfe, "dort, wo das Persönlichkeits-, Sprach- und Motivationszentrum liegt. Ich bin von Wolke sieben runtergefallen und auf dem Asphalt aufgeschlagen", sagt Semechin. Sie hatte mit ihrem Verlobten schon die Eheringe gekauft. Am 2. November, dem Tag vor der OP, heirateten sie in einer Blitzaktion, "so schnell kannst du nicht mal in Las Vegas heiraten", sagt sie. Danach, erzählt Semechin, "verabschiedete ich mich von Elena". Sie wusste nicht, ob sie noch dieselbe sein würde nach dem Eingriff. Und sie verabschiedete sich von ihrem Mann, Freunden, der Familie.

Die OP glückte, es folgte eine 13-monatige Chemotherapie. Ihre Haare schnitt sie sich vorher schon ab und spendete sie der Aktion Rapunzel, die aus gespendeten Haaren Perücken für krebskranke Kinder fertigen lässt. Sie trainierte dann einfach weiter, gewann, mitten in der Behandlung, im Juni 2022 auf Madeira WM-Silber über 100 Meter Brust. Heute sagt sie: "Ich habe den Sport gebraucht, um mich von dem Elend abzulenken."

Elena Semechin bei ihrem Goldrennen über 100 Meter Brust in Tokio. (Foto: Marcus Brandt/dpa)

In ihrem noch früheren Leben hätte sie diesen Ausgleich auch gerne gehabt. Als die Sowjetunion zerfiel, gab es kaum Arbeit für ihre Eltern in ihrem kleinen Dorf an der Grenze zu Kirgistan. "Wir hatten Tage, an denen musste ich ohne etwas zu essen in die Schule gehen", erinnert sie sich.

Die Jahre danach im Zeitraffer: Umzug mit der Familie bei Nacht und Nebel mit dem Zug nach Russland, wo sie nicht willkommen sind. Als Achtjährige muss sie dort wegen ihrer beginnenden Augenerkrankung ins Internat, in dem laut Semechin auch Schwererziehbare und Waisen waren, wo geschlagen und misshandelt wurde. Die Eltern holen sie wieder heraus aus der Hölle. Als sie elf ist, flüchten sie erneut - und landen nach Monaten in deutschen Auffanglagern in Bamberg. In Nürnberg besucht sie das Bildungszentrum für Blinde und Sehbehinderte, lernt mit 13 Schwimmen, schließt mit 15 ihre Ausbildung zur Physiotherapeutin ab und zieht nach Berlin, wo sie seither lebt und trainiert.

Die Ärzte sagen, der Tumor kehre womöglich in zehn bis 15 Jahren zurück

Seit Februar ist Semechins Krebsbehandlung abgeschlossen, sie sieht sich inzwischen wieder bei 70, 80 Prozent ihrer Leistungsfähigkeit. Sie möchte jetzt herausfinden, wohin das Wasser sie trägt, auch bei der WM in Manchester im Sommer - nach all den Medikamentencocktails, die sie einnehmen musste. Ihr zweites Ziel: Sie möchte ihr eigenes Leben leben. Für den Playboy hat sie 2020 posiert, mit ihrem Vater kann sie darüber noch immer nicht sprechen. Sie wollte nun mal zeigen, dass "man nicht perfekt sein muss auf dieser Welt", sagt sie. "Und dass ich selbst über meinen Körper bestimme."

Sie möchte das tun, solange es geht. Ihre Ärzte sagen, der Tumor kehre womöglich in zehn bis 15 Jahren zurück. Wenn es so weit ist, schlägt die Kämpferin Elena Semechin das nächste Kapitel auf.

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