Es gibt Namen, bei deren Nennung eine ganze Welt anklingt. Marseille ist so einer. Das mag auch am Hafen liegen, dieser formidablen und auch etwas verruchten Rampe in ein neues Leben, begleitet vom Gedröhne des Schiffshorns. Die Kapitale Südfrankreichs ist wahrscheinlich die unfranzösischste aller französischen Städte. Sie ist auch und nicht zu knapp maghrebinisch, komorisch, italienisch, spanisch, senegalesisch und vor allem korsisch, was streng genommen natürlich auch französisch ist, aber doch ganz anders.
Vor allem aber ist Marseille olympisch, von Olympique Marseille. Der Fußballverein ist der größte gemeinsame Identitätsstifter dieser Stadt mit ihren vielen sozialen Widersprüchen und kulturellen Überlagerungen, so etwas wie eine Religion jenseits der Religionen. Solche Dinge sagt man ja schnell mal so daher. In Marseille ist es tatsächlich so. Und das Stade Vélodrome, das Stadion am Knie der lang gezogenen Avenue du Prado, dient als Tempel.
Nach Leipzig dürfen die Fans aber nicht mit
Vielleicht ist die Begegnung im Viertelfinal der Europa League gegen das oft als retortenhaft beschriebene RasenBallsport Leipzig auch deshalb eine besondere. Kein Verein in Frankreich hat mehr und fiebriger leidende Fans als OM, manchmal übertreiben sie es auch und werden bestraft. Zum Hinspiel nach Leipzig dürfen sie nicht fahren, weil es im Achtelfinale gegen Athletic Bilbao Probleme mit der baskischen Polizei gab und der europäische Verband Uefa sie danach mit einer Sperre belegte. OM - das ist auch ein politisches Statement gegen den Rest des Landes, der immer etwas mitleidig lächelt über Marseille. Das äußert sich in Rivalitäten mit Lyon und Paris, den reichen Städten weiter nördlich.
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Mit einer mutigen Spielidee fügen die Leipziger dem Rekordmeister die erste Niederlage seit fast vier Monaten zu. Trainer Hasenhüttl beweist, was möglich ist, wenn man gegen die Bayern etwas wagt.
In der Meisterschaft stehen die Marseillais gerade auf dem dritten Rang, hinter PSG und AS Monaco, vor Olympique Lyon. Wenn es so bliebe, wäre man ganz zufrieden. Der dritte Platz der Ligue 1 bietet die Chance, es über die Qualifikationsrunde in die Champions League zu schaffen. Da werden Erinnerungen wach, es sind nicht nur ruhmreiche. Es gab einmal eine Zeit, da war OM eine Macht, man gewann Titel in Serie und die bislang einzige Champions League eines französischen Vereins überhaupt. 1993 war das, in München, 1:0 gegen den AC Mailand. Ein Kopfballtor von Basile Boli in der 43. Minute. Seither lautet einer der Slogans des Vereins so: "À jamais les premiers". Für immer die Ersten.
Damals wurde der Verein vom Geschäftsmann Bernard Tapie angeführt, dem zwischenzeitlich auch die Firma Adidas gehörte. Eine flamboyante Figur, ein Prahler und Protzer, ausgerechnet aus Paris. Doch in Marseille liebten sie ihn, weil er den Verein groß machte. Dann kam heraus, dass dabei nicht alles sauber lief, dass auch geschmiert wurde. Tapie musste ins Gefängnis, der Verein wurde zwangsrelegiert. An die alte Glorie konnte OM seither nie mehr anknüpfen. Der Klub wechselte mehrmals die Hand. Seit zwei Jahren gehört er nun dem Amerikaner Frank McCourt, dem früher mal das Baseballteam L. A. Dodgers gehörte.
McCourt investierte viel Geld in neues Personal, etwa 45 Millionen Euro. Doch im Vergleich zu den Zahlen, mit denen sie bei dem katarischen PSG und dem russisch gelenkten Monaco jonglieren, ist das natürlich ein Klacks. Es ließen sich damit aber einige namhafte Spieler nach Marseille locken, auch zwei Ehemalige mit Wehmut: Florian Thauvin, der beste Stürmer des Vereins, und Steve Mandanda, der Torwart. Beide hatten ihr Glück in England versucht und waren dort gescheitert. Doch Marseille ist ein Hafen, auch für Rückkehrer. Dimitri Payet wiederum, der kreative und zuweilen geniale Kopf im offensiven Mittelfeld, kam von West Ham United, das ihn unbedingt hatte behalten wollen und nach langem Kampf mit Schimpf nach Marseille ziehen ließ. Luiz Gustavo, Lucas Ocampos, Kostas Mitroglou - an bekannten Namen mangelt es bei Olympique Marseille wirklich nicht.
Zum Star des Teams aber avancierte der Innenverteidiger Adil Rami, ein harter Kerl mit recht ungelenken Füßen und fein gezupften Augenbrauen, der vor einem Jahr aus Sevilla kam. Für eine Ehrenrunde, wie man dachte. Es kam anders. Unlängst erzählte er in einem Interview, er habe in seiner Kindheit nie "Baywatch" geschaut, die TV-Serie aus Malibu, und nährte damit das ohnedies schon recht üppige Interesse an seinem Privatleben. Rami, 32 Jahre alt, ist nämlich seit einigen Monaten amourös liiert mit Pamela Anderson, 50, der weltberühmtesten Rettungsschwimmerin der Historie. Die beiden haben ein Haus am Meer gekauft, unten an der Corniche Kennedy, wo Marseille am schönsten ist. Drei Millionen Euro soll es gekostet haben, schreibt die Zeitung La Provence. Mit der schönen "Pam" zog wieder etwas Glamour ein bei Marseille. Man sieht sie zuweilen auf der Tribüne des Vélodrome, ihre Garderobe interessiert dann einen Moment lang so sehr wie das Gekicke ihres Lieben.
Das Spiel gegen Leipzig wird sich Adil Rami wohl daheim am Fernseher anschauen, mit verletzter Wade. Er fällt für zwei Wochen aus. Sein fester Partner in der zentralen Abwehr, der Portugiese Rolando, laboriert an einer Verletzung an der Achillessehne und konnte zuletzt nicht trainieren. Verletzt sind außerdem die Rückkehrer Mandanda und Thauvin, der Stammkeeper und der Starschütze. Das sind eine ganze Menge Probleme auf einmal. Dennoch ist das alles halb so schlimm. Marseille ist wenigstens immer noch dabei im europäischen Wettbewerb. Im kleineren zwar, aber immerhin. Paris St. Germain? Monaco? Lyon? Die ganze, blasierte nationale Konkurrenz ist draußen. Und das reicht schon zum Glück.