Als der Brasilianer Thiago Braz da Silva die vielleicht größte Unsportlichkeit dieser Olympischen Spiele bemerkt, hebt er erst Arme und Schultern, dann beginnt er seinem Konkurrenten zu applaudieren. Da Silva hatte tags zuvor Gold im Stabhochsprung gewonnen. Er lieferte den Wettkampf seines Lebens mit einem Sprung über 6,03 Meter, eigentlich sollte diese Siegerehrung in Rio de Janeiro sein großer Moment werden. Aber so, wie er gerade abläuft, will er ihn nicht haben.
Neben ihm steht der Franzose Renaud Lavillenie, der Stadionsprecher hat gerade seinen Namen aufgerufen, "representing France" hört man noch, dann erklingt ein furchtbares Konzert aus Buhrufen und Pfiffen. Als da Silva das hört, hebt er die Arme zu einer Geste, die sagt: "Hey, was soll das? Warum buht ihr?" Als Lavillenie aufs Podest geht, applaudiert der Brasilianer ausdauernd seinem Konkurrenten. Der Gewinner klatscht gegen sein eigenes Publikum an.
Dann wird die brasilianische Nationalhymne gespielt - und Renauld Lavillenie weint. Auf seiner Wange fließt ein glänzender Streifen, sein Mund verkrampft, er schluckt, seine Augen werden rot. Das Publikum hat es fertig gebracht, einen Weltrekordler und Weltsportler ein zweites Mal zu brechen, nachdem dieser schon das sportliche Duell am Vortag - ebenfalls begleitet von schrillen Buh-Rufen - verloren hatte. Am Ende hatte Lavillenie in bitterem Zynismus den Daumen Richtung Tribüne gezeigt.
Es wird viel gesprochen über die Zuschauer bei den Spielen in Rio. Wenn brasilianische Sportler dabei sind oder Usain Bolt startet, sind die Arenen voll und die Stimmung gigantisch. Bei "normalen" Spitzensportlern ist kaum jemand da. Zum Teil ist das verständlich: Tickets kosten meist umgerechnet 26 Euro, man kann sie in Raten bezahlen, aber für ein Land in der Wirtschaftskrise ist das viel Geld, für Bewohner der Favelas sowieso. Dazu kommen organisatorische Probleme: Beim Tennis-Finale von Angelique Kerber wollten viele deutsche Fans Karten haben und kamen trotzdem nicht in die halbleere Arena.
Trotzdem ist das Verhalten vieler einheimischer Fans, die im Stadion sind, olympischer Spiele nicht würdig. Wer gegen brasilianische Athleten antritt, weiß, dass er mit deutlichem Gegenwind von den Tribünen rechnen muss. Besonders hart trifft es Argentinier, wie ein Fan beim Tennisspiel von Juan Martin Del Potro erfahren musste: Er wurde verprügelt.
Einen Sportler nicht nur im Wettkampf, sondern auch bei der Siegerehrung gnadenlos auszupfeifen, einfach nur, weil er gegen einen Brasilianer antrat, das ist ein neues Maß an Unsportlichkeit. Lavillenie ist kein doppelter Ex-Doper wie der Sprinter Justin Gatlin oder die Schwimmerin Julia Jefimowa. Er hat sich nicht unfair verhalten, und er ist noch nicht einmal Argentinier, mit denen die Brasilianer seit Langem eine nicht nur sportliche Rivalität pflegen (Was Pfiffe natürlich nicht besser, aber zumindest erwartbarer macht).
Lavillenie traf die Unfairness des Publikums mit voller Wucht, und er hatte noch nicht mal eine Mannschaft, die ihm helfen oder unterstützen konnte. Er stand alleine gegen alle. Schon das setzte ihm sichtlich zu.
In den Katakomben nach dem Wettkampf sagte der Franzose dann ein paar dumme Sätze. "Für die Olympischen Spiele ist das kein gutes Image", meinte er zu den Pfiffen und zog einen Vergleich mit den Propaganda-Spielen der Nazis vor 80 Jahren in Berlin: "1936 war die Menge gegen Jesse Owens. Wir haben so etwas seitdem nicht mehr erlebt. Wir müssen damit umgehen." Schon kurze Zeit später nahm er die Sätze zurück. "Ich entschuldige mich für den unpassenden Vergleich, was die Stimmung anbelangt, in dem hitzigen Moment habe ich die Tragweite der Aussage nicht bedacht", schrieb er auf seiner Facebook-Seite.
Ein dummer Spruch rechtfertigt keine Pfiffe
Ein blöder Spruch, auf den eine prompte Entschuldigung folgt, rechtfertigt auf keinen Fall, einen Sportler bei der Siegerehrung niederzupfeifen und ihm einen Moment zur Hölle zu machen, auf den er vier Jahre hingearbeitet hat. Zudem Lavillenie ja schon das Duell um Gold verloren hatte. Er lag am Boden und das Publikum trat noch einmal nach.
Das IOC verbreitete später ein Foto, auf dem Lavillenie noch immer zerstört in den Katakomben sitzt und von Da Silva und dem Ex-Stabhochspringer Sergej Bubka getröstet wird. Auch andere Sportler unterstützen Lavillenie. Ex-400-Meter-Weltrekordler Michael Johnson sagte etwa: "Die Zuschauer sollen sich schämen, darum geht es nicht in einem Wettkampf. Er war sehr verletzt."
Die SZ-Redaktion hat diesen Artikel mit einem Inhalt von X Corp. angereichert
Um Ihre Daten zu schützen, wurde er nicht ohne Ihre Zustimmung geladen.
Ich bin damit einverstanden, dass mir Inhalte von X Corp. angezeigt werden. Damit werden personenbezogene Daten an den Betreiber des Portals zur Nutzungsanalyse übermittelt. Mehr Informationen und eine Widerrufsmöglichkeit finden Sie untersz.de/datenschutz.
Selbst die Organisatoren waren der Meinung, eingreifen zu müssen. "Pfiffe und Buhrufe sind kein korrektes Verhalten, selbst nicht in Eins-gegen-eins-Wettkämpfen und mit einem Brasilianer, der Chancen auf den Olympiasieg hat", sagte Mario Andrada, Pressechef des Organisationskomitees. Das Comitê Rio 2016 plane, den Dialog mit den brasilianischen Zuschauern in sozialen Netzwerken zu intensivieren. Ziel sei es, dass die Brasilianer als faire Fans auftreten, "ohne die Leidenschaft für den Sport zu verlieren". Und auch IOC-Präsident Thomas Bach ließ sich mit den Worten zitieren: "Schockierendes Verhalten des Publikums, Renaud Lavillenie auszubuhen. Inakzeptabel bei Olympia."
Sich ausgerechnet von Thomas Bach moralisch belehren lassen zu müssen, das ist schon eine besondere Ehre. Die Zuschauer, die gepfiffen und gebuht haben, haben sie verdient.