Niederlande schlägt Frankreich:"Wer ist eigentlich der Weltmeister?"

Lesezeit: 3 min

Frenkie de Jong soll das Mittelfeld des FC Barcelona dirigieren. (Foto: Stringer/Reuters)

Frankreich wird beim 0:2 gegen die Niederlande nur dank seines Torhüters nicht aus dem Stadion geschossen. Spätestens jetzt ist klar: Deutschland trifft am Montag auf eine wiedererstarkte Fußballmacht.

Von Javier Cáceres, Rotterdam

Vielleicht war es die Erinnerung an den Bundesligaalltag, oder schlimmer noch: dieser dann doch eher überraschende Vergleich, der implizit zugrunde lag. Was auch immer: Es sorgte dafür, dass man einen recht eindeutigen Eindruck davon bekam, wie blank die Nerven derzeit liegen bei Benjamin Pavard, dem französischen Weltmeister vom VfB Stuttgart. Ob er eine Idee habe, die erkläre, warum es derzeit bei ihm so schlecht laufe, beim VfB und nun auch bei Frankreichs Nationalelf, die soeben mit 0:2 bei den Niederländern verloren hatte, wollte ein französischer Journalist wissen. Eine Antwort lieferte Pavard nicht. Er warf dem Fragesteller vielmehr einen tötenden Blick zu - und stapfte erkennbar wütend davon.

Andererseits: Er hatte durchaus die Erinnerung an Stuttgart heraufbeschworen, als er einige dieser leeren Floskeln abgeliefert hatte, die man aus dem Fundus von Tabellenkellerkindern bestens kennt. Man hätte "eigentlich alles" besser machen müssen, schlüssige Gründe für den defizitären Vortrag des Weltmeisters habe er auch keine - solche Sachen waren aus Pavards Mund gekommen. Nachvollziehbar war das insofern, als Frankreich am Ende eingestehen musste, im Grunde chancenlos geblieben zu sein.

Nations League
:Die Niederländer rufen: "Tot ziens, Deutschland"

Auf Wiedersehen: Das DFB-Team steigt in die B-Gruppe der Uefa Nations League ab. Doch wenn man sich vor Augen führt, was Niederländer und Franzosen aufführen, gibt der Abstieg nur die Realität wieder.

Von Javier Cáceres

"Wer eigentlich ist der Weltmeister?", fragte die niederländische Zeitung Volkskrant am Samstag. Und in der Tat: Dass die Franzosen in "De Kuip", der alten "Wanne" von Rotterdam, nicht aus dem Stadion geschossen wurden, hatten sie einzig ihrem superben Torhüter Hugo Lloris zu verdanken, der in seinem Privatduell mit dem niederländischen Angreifer Memphis Depay nur einmal das Nachsehen hatte: als der Stürmer von Olympique Lyon in der Nachspielzeit mit einem Elfmeter à la Panenka einen formidablen Schlusspunkt setzte. Und damit überdies Deutschland, den Weltmeister von 2014, en passant in die zweite Liga der Nations League schickte. Am Montag kommt es in Gelsenkirchen zu einem Wiedersehen mit den Deutschen, die man neulich erst in Amsterdam 3:0 geschlagen hatte. Ein Punkt auf Schalke reicht den Niederländern, um das "Final Four" der Nations League 2019 zu erreichen - ein Viererturnier, das sie eigentlich nicht auf den Schirm hatten. Zudem werden sie bei der Auslosung als gesetzte Mannschaft in der EM-Qualifikation den Top-Mannschaften wohl aus dem Weg gehen.

"Unsere Unzulänglichkeiten waren himmelschreiend", sagt Didier Deschamps

Vor allem aber erneuerten die Holländer den vorzüglichen Ruf ihres Fußballs, der so erleichternd lebensbejahender und anregender ist als der, der zuletzt siegreich war - und deshalb, nur deshalb einen Trend zu begründen schien: Frankreichs Fußball, der nun "zurück auf der Erde" ist, wie die Zeitung L'Équipe befand.

"Unsere Unzulänglichkeiten waren himmelschreiend", ärgerte sich Weltmeistertrainer Didier Deschamps - und sprach von einer "logischen Niederlage", der ersten übrigens seit dem 2:3 gegen Kolumbien aus dem März 2018. Deschamps, der im Jahr 2000 in Rotterdam gegen Italien Europameister geworden war ("eine schöne Erinnerung"), wollte nicht ausschließen, dass mentale Gründe dafür ausschlaggebend waren. Dass sich nun, am Ende eines extrem erfolgreichen Jahres, der "Druckabfall" eingestellt hat, für das die Franzosen das viel schönere Wort "décompression" haben. Das könnte in etwa gelten für Mbappé oder Griezmann, die nicht mehr um Stimmen für den Goldenen Ball kämpfen müssen; die Abstimmung wurde am 9. November geschlossen. "Wir hatten nicht genug von all dem, was unsere Stärke ausgemacht und uns erlaubt hat, gute Resultate aneinanderzureihen", sagte Deschamps, ohne im Pressesaal deutlich zu umreißen, was er genau meinte. Was nicht ganz uninteressant gewesen wäre: So viel anders als sonst hatte Frankreich gar nicht gespielt, auch wenn Paul Pogba fehlte.

Deschamps' Team stand im Zweifel massiert hinten drin und vertraute darauf, dass der Gegner einen Fehler machte. Machte der Gegner aber nicht, so sehr die drei Angreifer - Antoine Griezmann, Olivier Giroud und Kylian Mbappé - bei ihren seltsam einsamen Pressing-Bemühungen versuchten, den Spielaufbau der Niederländer zu stören. Einsam übrigens deshalb, weil kaum ein Franzose nachrückte, wenn die drei Offensivkräfte dem Ball hinterherjagten.

"Ich hatte kein perfektes Spiel von uns erwartet. Aber dann war genau das der Fall", sagt Koeman

Den Niederländern wiederum machte es rein gar nichts aus, den Ball kreisen zu lassen, logische Passfolgen einzuleiten, auf Torgelegenheiten zu warten. Gewiss: Die Franzosen hatten zwei, drei Großchancen; zwei Mal durch Antoine Griezmann, ein Gewaltschuss von Pavard strich knapp übers Tor. Nur: Ohne "effectivité" ist Frankreichs Fußball in etwa so nahrhaft und schmackhaft wie Bleistifte. Ganz anders die Niederländer, die kurz vor der Pause - und das heißt: im Lichte des Spielverlaufs viel zu spät - durch Georginio Wijnaldum in Führung gegangen waren (43.).

Die neue Mischung aus brillanten jungen und alten Spielern, repräsentiert durch Matthijs de Ligt, 19, und Virgil van Dijk, 27, in der Innenverteidigung, oder auch durch Frenkie de Jong, 21, sowie Wijnaldum, 28, im Mittelfeld, trägt ihre Früchte. "Ich hatte kein perfektes Spiel von uns erwartet. Aber dann war genau das der Fall. Wir waren in allen Bereichen sehr gut", schwärmte der seit Februar amtierende Nationaltrainer Ronald Koeman: "Wir haben 90 Minuten lang dominiert, das ist fantastisch". Am Sonntag reisen sie recht entspannt in den Ruhrpott, um gegen Deutschland das abschließende Gruppenspiel zu bestreiten. Und zu gewinnen. "Auf Unentschieden spielen? Das können wir nicht", sagte Wijnaldum.

© SZ vom 18.11.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Kai Havertz
:Der neue Zehner

19 Jahre, 65 Bundesligaspiele und laut Joshua Kimmich "einer für den FC Bayern": Kai Havertz könnte in der Nationalmannschaft die Lücke füllen, die sein Vorbild Mesut Özil hinterlässt.

Von Anna Dreher

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: